Markus Rottmann

41 Kolumnen über Bergliteratur im Magazin Literarischer Monat 2011–2020

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Ganz einfach das Bergbuch der (neueren) Bergbücher
Genau hingeschaut. Mit feiner Feder formuliert. Den Bergen neue Seiten abgewinnend. Und den Büchern über sie auch. 

-Ankers Buch der Woche


Mit grossem Genuss klettere ich durch die Seiten und Zeilen.

– Emil Zopfi

Bibliothek der besonderen Bergliteratur


 Kolumne über Bergliteratur im Schweizer Magazin LITERARISCHER MONAT


41 – Heise. Schuck: Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete und ihre touristische Neuausrichtung

Letzte Bergfahrt

Was für ein richtiger, verfluchter, finaler Titel für die letzte Kolumne in diesem Blatt. Begeben wir uns also noch einmal auf Bergfahrt über die Grate und das Thema hinaus. Es fragt sich noch immer, was Literatur mit den Bergen soll. Was einen der Winter im Sommer interessieren muss. Was braucht es Wissenschaft, wenn man auch eine Meinung haben kann? Was geht mich Klimawandel an, wenn meine Insel nur eine politische ist? Klar ist, es hat sich noch immer gelohnt, über die eigene Sache hinauszusteigen. Wanderer wissen das. Aus der Distanz betrachtet wird die Welt nicht nur kleiner, sie wird klarer. Von weit her blickten auch die Wissenschaftler, die Letzte Bergfahrt vorgelegt haben, ein Buch über die Stilllegung von Skiliftanlagen in den Schweizer Alpen. Was aber brachte Politikwissenschafter aus dem Ruhrgebiet dazu, sich statt ihren Kohlezechen den verfallenden Skilifthäuschen zu widmen? Männer und Frauen wohlgemerkt, die sonst zu internationaler Sicherheitspolitik forschen, sich mit Terrorismus befassen und militärischen Interventionen. Es muss so etwas wie Liebe gewesen sein. Davon zeugen Fotos. Von Anfang war klar, dass diese wissenschaftliche Pionierstudie auch einem nichtakademischen Publikum erschlossen werden sollte. Weshalb sich die Analysen in einem bildreichen Buch präsentieren mit ästhetischem Anspruch. Die Fotografien allerdings stammen nicht von Coffee-Table erprobten Bergfotografen, sondern von den Autorinnen und Autoren selbst. Betrachtet man ihre Aufnahmen, lässt einen der Verdacht der Befangenheit nicht los. Irgendwie haben die sich in ihr Forschungsobjekt verliebt. Auch ich habe sie immer gemocht, die geometrischen Formen der Seilbahnen, die betonblockigen Findlinge in hügeliger Landschaft, sommers etwas verloren in geblümten Bergwiesen stehend. Orange Schwungräder unter blauem Himmel, dunkelgrüne Masten. Schwarze Stahlseile definieren Postkartenansichten und verschwinden in Stationen, die aussehen wie Raumschiffe aus der Vergangenheit der Zukunft. All dies erschöpft sich nicht mehr in Schwärmerei, es gibt jetzt die Fakten. Aufstieg und Niedergang der Schweizer Skilifte wurden erforscht und untersucht, exemplarisch an den Anlagen Erner Galen, Hungerberg, Winterhorn und Confin/San Bernardino. Bei aller Sachlichkeit eine spannende Lektüre über Fortschrittseuphorie, Pioniergeist, Dorfkönige und internationale Investoren. Die stets unrentablen Bergbahnen waren von Beginn an komplexe Konstruktionen aus Querfinanzierungen, Hoteliers und Verkehrsvereinen. Als der Killer Klimawandel auftrat fand er viele strukturelle Helfer. Zum unleugbaren Schneeschwund kam die Billigfliegerei und bald hiess die Konkurrenz Thailand, Barcelona und Mykonos. Bequemere Familienferien. Und diejenigen, die dem Skifahren treu blieben, die tagesausflügeln heute lieber in die Komfortzone einer Snow Arena als ganze Sportwochen mit Schlepplift und Skikurs zu absolvieren. Wenn selbst die Einheimischen immer weniger anbügeln, wie soll man da ausländische Gäste motivieren, ihr Ferienbudget der Härte des Schweizer Frankens auszusetzen? Die Rettung des Winters ist der Sommer. Also Hängebrücken, Seminare, Seilparks, Landschaftspärke und Musikfestivals. An Ideen mangelt es nicht, auf die Ernüchterung folgt wieder leise Aufbruchsstimmung. Doch nichts wird wieder so, wie es mal war. Das hat wie immer auch sein Gutes. Bereits im Vorwort von Daniel Anker blitzt Zukunft auf, eine schneestiebende, glitzernde. Denn auf das wehmütig erhellende Letzte Bergfahrt folgt hoffentlich bald sein Skitourenführer über ehemalige Pisten, die wieder den Berggängern gehören. Vielleicht ist das Aufleben des Wintersports, dass er wieder zum Sport wird.  

40 – Tom Dauer: Die Kunst der Panoramakarte

Unser schwelgend' Standpunkt

Es ist so eine Sache mit der Abbildung der Realität. Ist sie exakt, stellt man fest, das Wichtigste ist gar nicht da. Sie ist wie eine Liebesgeschichte ohne die Liebe. Wer etwas nur benennt, zeigt es nicht. Schreibt man ein Gefühl hin, kommt es nicht auf. Um sich der Wirklichkeit zu nähern, muss man sie etwas beugen, überhöhen, verändern, Raum frei machen für all das Unaussprechliche, Unsichtbare, was sie eben auch ist. Ein Prinzip, das Musik schweben lässt, Literatur unvergesslich macht und Kunst gross. Selbst dann, wenn man sie bislang kaum als solche wahrgenommen hat. Wie die Panoramakarten des Bergtourismus. Diese wunderbaren Gemälde, die nur das schönste Licht für unsere Majestäten kennen, azurblaue Himmel und schneeweise Höhen über grünen Matten. Diese Berglust, die sie vor uns ausbreiten mit Tälern und Gipfeln, schwungvollen Pisten und hingepinselten Einkehrmöglichkeiten ist, man kann es kaum anders sagen, überaus malerisch.
Ein jeder Bergort, der etwas auf sich und seine Gastfreundschaft hält, druckt ein solches Selbstporträt auf Poster, Faltblätter und Informationstafeln. Vor einiger Zeit ist nun eine Sammlung dieser Panoramen in einem renommierten Kunstverlag erschienen und damit auch die Frage: Haben wir jahrelang Kunst übersehen oder, schlimmer noch, als selbstverständlich betrachtet? Heinrich C. Berann, einer der Begründer dieser ganz eigenen Art der Landschaftsmalerei – etwas verniedlichend, etwas naiv, aber herrlich – hat seine Werke signiert. Blosse Auftragsarbeit war das für ihn nicht. Er hat in die Landschaft eingegriffen, seine Modelle arrangiert und auch schon mal Berge versetzt, um eine Ansicht vorteilhafter zur Geltung zu bringen. Nur hat er das nicht künstlerische Freiheit genannt, sondern sich selbst einen Schwindler («Schwindler für die Schönheit» klingt fast wie Gangster of Love). Das ist natürlich Frevel im Land der Superkartographie. Die Schweizer Landeskarten sind an Informationsdichte und Präzision die Mondlandung der amtlichen Vermessung. Wer bei uns vom Weg abkommt, der hat sich nicht verlaufen, der kann nicht lesen. Und da nennt sich eine beschönigend hingeschwindelte Landschaftsdarstellung eine Panoramakarte! Das ist, als würde man im Gesetz die Paragraphen umschreiben, damit man das Recht besser singen kann. Doch Berann und viele seiner Nachfolger taten genau das. Zwar geben ihre Landschaftsdarstellungen vor, sie würden den Verlauf von Loipen, Sesselliften und Hüttenwegen anzeigen, doch in Wahrheit hoben sie Schönheit empor, höher noch als die Berge, die sie darstellten. Wo anerkannte Kollegen und Romantiker wie Caspar Wolf den Schauer betonten, den Blick in furchteinflössende Felswände stürzen liessen, wählten sie das Schwelgen als Standpunkt, machten die anmutigste Linie zur Perspektive. Blättert man im Buch durch diesen Bergreigen der Freude, tut sich einem das Herz auf – und ein Handwerk, das sich beinahe unbemerkt zu einer Kunstform entwickelt hat. Gerne hätte man in den Begleittexten mehr über die Künstler erfahren, etwas Hintergrund erhalten, erhellende Zuordnung, doch in einem Buch über Karten, die nur beschränkt Orientierungshilfe bieten, ist die fehlende Genauigkeit vielleicht nur konsequent und steht den sonnigen Augenweiden nicht im Wege.  


39 – ranchowebshow.com / Rebekka Haefeli: Willy Garaventa

Skigymnastik fürs Gemüt

Der Winter naht. Und es ist nicht alles Weihnachten, was er bringt. Gewiss, Geschenkelawinen werden niedergehen, Fussgängerzonen mit Glühwein geflutet, aber nicht jeder Schrecken der grimmigen Jahreszeit ist menschengemacht. Ausserhalb sitzbeheizter Offroader lauert die echte Kälte. Unkontrolliert fallender Schnee macht beheizte Garageneinfahrten nötig. Temperaturen, die der Klimaerwärmung spotten, zwingen die Strassencafés zum Einsatz von Wärmepilzen und ihre Gäste in pelzbesetzte Daunenjacken. Wer zu diesem Ungemach nicht auch noch das schlechte Gewissen aushalten mag, für den kommt nun die Zeit des Fliegens. Andere jedoch streben nach Höherem. Sie folgen der Überlieferung des Wintermärchenfonduetannenchalethüttenzaubers und tragen ihren Dichtestress in Bergdörfer, die, aus dem Sommerschlaf erwacht, zu geschäftigen Alpen-Citys werden, ja werden müssen. Die Gesetze der Natur sind unerbittlich. Das Beste bleibt, dem Wahnsinn mit Wahnsinn zu begegnen. Etwas worauf uns auch diese Saison kein Buch vorbereitet, aber ein französischer YouTube-Kanal: die Rancho Webshow. Um zu verstehen, was man dort zu sehen bekommt, muss man, ... ich weiss es auch nicht. In mittlerweile sechs Staffeln und ungezählten Episoden erforscht ein Schnauzbart namens Rancho die Randphänomene des Skisports. Alles beginnt auf dem Parkplatz eines zwielichtigen Gebrauchtwarenhändlers, der ihm den 1977er Simca Rancho verkauft und damit den Namen verpasst. Eine Schneeflocke trifft Rancho frontal auf den Kopf, seine Begleiter trifft er kurz darauf mit der Kühlerhaube. Nun gibt es kein Halten mehr. Wir sehen das Team Rancho auf Skitour mit einem Dachs, als Astronauten eine Mondlandschaft hinabbrettern, von kanadischen Rangern eine Buckelpisten-Ausbildung erhalten. Sie seilen sich an Kühen an, werfen sich zur Musik von Leonard Cohen in das 52 Grad steile «Couloir de Moustache» und entdecken in einer Berghütte die Ursprünge des Snowboardens, samt der im Keller gefangen gehaltenen Skirennfahrer. Rancho fährt mit seinen Skiern auf den Wellen einer Atlantikbrandung und zwängt sich in einen roten Latexanzug, um beim Speed Skiing tatsächliche 205 Stundenkilometer zu erreichen. Das Team Rancho macht den Skizirkus zur Freak-Show. Ihr Extremismus kennt keine Grenzen, dazwischen spielen sie Trompete. Da ist es nur konsequent, wenn Rancho im Trailer zu seiner aktuellen Staffel auf der Couch eines Ski-Psychiaters liegt. Wo sich andere Freeskier mit professionell inszenierter Powder-Pornographie überbieten, endlos grandiose Schwünge in Tiefschneehänge ziehen von Kanada bis Japan, von Gipfeln winken, auf die sie sich und ihre Kamerateams mit Helikoptern haben fliegen lassen, sind die Ranchos um Klassen dadaistischer unterwegs. Das Team um den ehemaligen Skicross-Weltmeister Enak Gavaggios bedient keine Sponsoren, sondern den eigenen Spass. Kein Wunder, treten die Skistars gleich reihenweise in seiner Show auf. Absurd kostümiert oder gleich nackt. Wer sich etwas niveauvoller auf die anstehende Skisaison vorbereiten möchte, auf den Small-Talk im Sessellift etwa, dem sei die kürzlich erschienene Biographie von Willy Garaventa empfohlen. Der Schweizer Seilbahnpionier aus Goldau hat mit viel Innovationsgeist und Abenteuerlust unzählige Berggipfel auf der ganzen Welt erschlossen. Rebekka Haefeli erzählt seine aussergewöhnliche Lebensgeschichte vom Gemsstock bis ins Squaw Valley. Das Buch wurde zu Recht lobend und ausführlich besprochen, weswegen ich das hier nicht auch noch tun muss. Nur soviel: Ein schönes Buch, ein wichtiges Buch. Garaventas Schlepplifte haben das Skifahren überhaupt erst zum Volksport gemacht. Für welche Skivorbereitung man sich nun entscheidet, beide sind Kult, für beide gibt's Merchandising zu kaufen. Zur Erinnerung: Der Winter bringt nicht nur Weihnachten, aber eben auch.

38 - Dieter Richter: Der Vesuv - Geschichte eines Berges

Und führe uns nicht in Vesuvio

Sorry, Matterhorn. Der meistbesuchte Berg der Welt ist keine Majestät, sondern ein launisches Ding. Anmutig anzusehen, aber brandgefährlich. Tief drinnen brodelt und kocht es. Und alle paar Jahrhunderte kommt's zum Ausbruch. Unberechenbarkeit macht attraktiv – auch den Vesuv. Der Kies knirscht unter den Trekkingsandalen, Flipflops, Plastikcrocs und Turnschuhen. Vom Carparkplatz schlängelt sich ein Weg hoch zum Kraterrand, durch Ticketkontrollen und Souvenirshops. Diese Prozession wird nicht vom Erzbischof angeführt, der im 16. Jahrhundert dem brennenden Berg das Blut des San Gennaro entgegenhielt. Die Touristen aus aller Welt besteigen ihn mit erhobenen Smartphones. Die meisten haben eben noch die konservierten Leichen in Pompeji bestaunt, vor ihnen liegend mit eingeschlagenen Schädeln und gekochten Gehirnen, haben sich wollüstig gegruselt angesichts eindeutiger Graffitis vor dem römischen Bordell, hingekritzelt, bevor die Feuerwalze über sie kam. Aber man kann den Römern nichts vorwerfen. Solange sie hier siedelten, hatte nichts darauf hingedeutet, dass der Berg hinter ihnen Feuer spuckt. Ganz anders heute. Der Vesuv ist der am besten und längsten erforschte Vulkan der Welt. Alle zwei Wochen seilen sich Wissenschaftler in seinen Krater ab, schnüffeln am schwefligen Räuchlein einer Fumarole, fangen Proben ein, um zu erkennen, was den Vesuv in seinem Innersten umtreibt. Ein Jahrhundertausbruch ist seit Jahren fällig. Doch wie so oft, was die Wissenschaft weiss, macht die Politiker nicht heiss. «Wer bei uns Bürgermeister werden will», so ein Lokalreporter, «redet nicht von Notfallplänen.» Besser sei es, das Budget für das Fest des Stadtheiligen aufzustocken, für die Prozession, die Süssigkeiten, das Feuerwerk. 700'000 Menschen leben in der roten Zone, bauen Häuser und Villen in ein Gebiet, aus dem es keine realistischen Evakuierungspläne gibt. Die lustvoll gelebte Verdrängung macht den Vesuv zum gefährlichsten Vulkan der Welt. Oder wie es der Korrespondent Oliver Meiler nannte: zum Gipfel der Sorglosigkeit. Noch strömt keine Lava herab, dafür die Touristenmasse hinauf. Die Anziehungskraft des Vesuvs war selbst in seinen aktiven Zeiten gross. Auch Goethe fand sich unter den Pionieren des Katastrophentourismus, wurde allerdings enttäuscht, er konnte keinem Ausbruch beiwohnen. Später führte gar eine Standseilbahn hoch, die jedoch von einer dieser ersehnten Eruptionen zerstört wurde. Von ihr übrig ist nur noch der Schlager «Funiculì, Funiculà», der zur Eröffnung komponiert worden war. Viel wurde geschrieben zur Kulturgeschichte dieses Vulkans, aber in keinem Buch so schön wie in Dieter Richters «Vesuv – Geschichte eines Bergs.» Er führt uns hinab in die Magmakammer der Erinnerung, berichtet vom Erreger neapolitanischer Leidenschaft, von der Lust auf die Katastrophe. VomVesuvischen Urahnüber die Bronzezeit bis zum letzten Ausbruch im 2. Weltkrieg. Von Vergil, Fontane, Immanuel Kant, dem Mädchen von Pompeji und Andy Warhol. Wer heute ein Picknick am Kraterrand macht, sollte es dabeihaben, darin blättern und sich inmitten dieser Entwürdigung eines Bergs versöhnlich stimmen lassen. Den Vesuv zu unterschätzen, gehört einfach zu ihm. Er gibt sich nahbar und verwöhnt mit einem herrlichen Ausblick über den Golf von Neapel. An seinen Hängen wachsen die köstlichsten Tomaten, der Wein schmeckt göttlich. Kein Wunder, dass trotz Umsiedlungsprämien niemand wegziehen mag, dass sich immer neue Häuser an seine Flanken schmiegen. Für seine Anwohner ist der Vesuv das Paradies – bis er sie mit Feuer daraus vertreibt.

37 - Chin/Vasarhelyi: Free Solo

Klettercircus maximus

Der Gladiator ist nicht das Problem. Er gibt vollen Einsatz. So, wie er es immer tut. Im Dokumentarfilm «Free Solo» erklimmt der Kletterer Alex Honnold den El Capitan ohne Seil, ohne Sicherung. Ein Mensch in T-Shirt und flatternder Hose in der gewaltigsten Granitwand der Welt. Selten war Einsamkeit so bestürzend anzusehen. Seine Füsse stehen auf kaum fühlbaren Tritten, unter ihm tausend Meter Tiefe. Wem das nicht genügt, für den zieht die Kamera nun auf und öffnet den Rachen des Abgrunds noch weiter. Alex greift hinter sich in seinen Magnesiabeutel, weisser Staub wirbelt durch die Morgenluft. Tief steckt er seine Faust in einen vertikalen Riss, die Füsse nun auf eine glatte Wand gestellt. Später wird er sagen, er haben den Tag seines Lebens gehabt, und es tue ihm leid, dass die Filmcrew und seine Freundin gelitten haben unter der kaum erträglichen Spannung. Das Publikum liebt ihn dafür und gräbt millionenfach die Finger in die Kinosessel, wenn Alex nach dem nächsten Griff tastet. Gleich kommt eine besonders schwierige Stelle, an der er bei den Vorbereitungen ins Seil gestürzt ist. Die grosse Qualität von «Free Solo» liegt darin, dass der Film uns vor Pathos und Sinnsprüchen verschont. Alex Honnold ist ein sympathischer, schlaksiger Kerl, der jedem pseudo-philosophischen Erklärungsversuch mit seiner entwaffnenden Ehrlichkeit begegnet. Seit er mit 18 Jahren die Schule abgebrochen hat, lebt er im Van, hier isst, schläft und trainiert er, lauschig parkiert unter den Felswänden. Obwohl längst einer der berühmtesten Free-Solo-Kletterer, hält er am Lebensstil des Dirtbag-Climbers fest. Er will nichts anderes, und das in seiner reinsten Form. Er würde das Klettern stets einer Frau vorziehen. Zum Free Solo sei er gekommen, weil er als junger Kletterer zu schüchtern war, andere anzusprechen. Sein ganzes Dasein ist Free Solo. In der Wand bedeutet dies: Lebensgefahr absolut – und für Alex die letztgültige Währung auf seiner Suche nach Perfektion. Als Sohn eines autistischen Vaters und einer nie- mals zufriedenen Mutter trägt er die dafür nötige Motivation in seinem Rucksack. Es sind nur die wenigsten unter den besten, die sich in dieser Variante des Klettersports versuchen und die meisten tun es nicht wegen des Adrenalins und schon gar nicht für Publikum. Ganz bei sich klettern sie jenseits jeder Rechtfertigung in einem höchsten Zustand der Konzentration. Selbst für einen Weltklasse-Athleten bedeutet Free Solo, entweder Olympia-Gold zu gewinnen oder dabei zu sterben. Ein Yosemite-Veteran erzählt Honnold, dass er seine eigenen Solos niemals für Zuschauer wiederholt hätte. Free Solo überlebe nur, wer es aus den "richtigen Gründen" mache. Alex lächelt und nickt, die habe er. Doch warum dann dieser Film? Das ist die Frage, die wie der Elefant im Raum steht, im Van, im Besprechungszimmer der Filmcrew. Sie alle wissen, weder die spektakulären Bilder, noch die Originalität der Erzählung werden den Thrill ihres Films ausmachen. Es ist der ständig mögliche Tod Honnolds. Unablässig beteuert der Regisseur wie schwer dieses Vorhaben auf ihm laste, nicht auszudenken, wenn er seinen Freund durch das Kameraauge in den Tod stürzen sähe, wenn die Irritation der Dreharbeiten Alex' Tod auslösen würde. Dabei wäre genau dies interessant gewesen, aus- und weiterzudenken, was das bedeutet hätte. Honnold setzt im Film sein Leben ein, sie hätten mit seinem Tod leben müssen. Glücklicherweise hat Alex überlebt. Seine ungesicherte Durchsteigung der Route Freeride gilt heute als Quantensprung der Kletterkunst, als die «Mondlandung des Free-Solo-Climbings». Und der Film hat einen Oscar bekommen. Der perfekte Porno für Sponsoren. Mein persönliches Highlight: Einer der Kameramänner richtet am Tag X den Sucher aus, fokussiert auf eine besonders gefährliche Stelle in der gigantischen Wand. Dann nimmt er seine Mütze ab und blickt zur Seite. Was er filmt, – er will es nicht sehen.

36 - Mario Casella: Die Last der Schatten

Moral ist, wenn's keiner sieht

Es gibt Bücher, auf die hat man lange gewartet. Doch zunächst in den Himalaja. Ich lag mit einem österreichischen Höhenbergsteiger im Lager III. Draussen zerrte der Wind an unserem Zelt, drinnen kämpfte ein Gaskocher mit einer Handvoll Schnee. Worüber wir uns in diesen Stunden unterhielten, ich weiss es nicht mehr, aber irgendwann fiel der Satz: «... in den Bergen ist alles so klar, ... du warst auf dem Gipfel, oder eben nicht.» Ich hörte viel Sehnsucht in diesen Worten und konnte doch nicht widerstehen: «Was ist mit dem, der mit Sauerstoff oben war? Sein Gipfel lag gefühlte 1000 Höhenmeter tiefer. Nur so als Beispiel ... und wie heldenhaft war einer, der auf den Berg gestiegen ist, aber auch über einen verletzten Kameraden?» Ich spürte, wie sich die Stimmung weit unter die Aussentemperatur abkühlte, und wechselte das Thema. Ich hatte an ein Tabu gerührt. An das Selbstverständnis vieler Berg- steiger, die in der Bergwelt das Reine und Hehre erblicken.

Warum das so sein soll, hat sich mir nie erschlossen. Die Berge bestehen aus unserer Vorstellung von ihnen. Manchen sind sie Charakterschule, aber nur denen, die ihre Lektionen annehmen. Ein Lump bleibt auch in der Eigernordwand einer. Grosser Ruhm wartet auf den Mutigen, aber auch die grosse Versuchung, ihn mit unlauteren Methoden zu erreichen. Wem die Berge also für die Wahrheit stehen, der fühlt ihren Frevel umso schmerzlicher.

Genau in diese Wunde fährt das neue Buch von Mario Casella. Der Tessiner Alpinist, Journalist und Dokumentarfilmer führt seine Leser zu den grossen Sündenfällen des Alpinismus zurück, zu den Betrügereien, Verleumdungen, Intrigen und Streits, die sich über Jahrhunderte hinziehen können. Das allein ist spannende Lektüre, zumal er diese Klassiker der Niedertracht kenntnisreich aufrollt und dabei über ein Ensemble der Superlative verfügt: Messner, Steck, Stangl, Krakauer, Bonatti, Everest, Montblanc. Wahrheitssuche ist auch Grosswildjagd. Doch wie jedes bedeutende Buch über die Berge strahlt «Die Last der Schatten» weit über die Abenteuerstory hinaus. Casella versucht erst gar nicht, die klärenden Antworten zu finden. Der Wahrheit kommt er nicht mit dem schulmeisterlichen Imperativ von richtig und falsch. Ihn interessieren die Motive der Lüge, ihre Folgen, die Biografien, die entzweibrechen, der mediale Druck und seine Rekordgier, die Zerstörungskraft der öffentlichen Meinung, die seltsame Doppelmoral beim Doping, Bergsteigerkarrieren, die nur noch wegen des einen Fehltritts erinnert werden, aber auch das Illegal/Scheissegal und die Lüge als Rettung aus einem Teufelskreis, der nichts mit dem eigenen Ego zu tun hat. In unserer Zeit der eilfertigen Empörung tut es gut, sich wieder einmal tiefer mit dem Wesen von Wahrheit und Lüge auseinanderzusetzen. Vor allem, wenn diese Meditation so packend erzählt ist.

Einer der Grossen der Schweizer Bergliteratur hat mir einmal gesagt, wie sehr er dieses Etikett hasse. Geschichten aus den Bergen seien Literatur, sofern sie es denn sind. Sofern sie uns vom Menschen erzählen und seinem Ringen mit sich selbst. «Moby Dick» nennt auch keiner Meeresliteratur. Und genauso wenig, wie es bei Melville um einen Wal geht, hat Casella ein Buch über Alpinismus vorgelegt. Er nimmt uns mit in die Todeszone der Wahrheit, folgt der Moral über abschüssiges Terrain und sucht menschliche Grate auf, die kaum jemand aufrecht begeht – in den Bergen, dieser erbarmungslosen Versuchsanordnung menschlichen Tuns.

35 - Caroline Fink: Silence, Stefan Hefele: Geisterhäuser

Von den Bergen schweigen

Keine Hymnen mehr, bitte, keine Sehnsüchte, haltet ein mit dem Patriotismus, der Verklärung, den alpinen Sportresultaten, der Todessehnsucht, dem Kitzel, der Alltagsflucht, dem Höhenrausch, dem Lob und dem Hudel, dem Lug und dem Trug, dem Pathos und dem Jagdschloss, dem Steigeisengeklimper und dem Werweissen um den Whymper, den Gebeten, den jämmerlichen, und dem Geblöffe, dem gottserbärmlichen. Die Berge rufen euch nicht. Die Berge, die sind still. Meinetwegen gurgeln sie, donnern, tosen. Im Kino kommen ihre Nordwände neuerdings mit dem erschüttern- den Röhren tibetischer Langhörner einher, aber sonst: kein Laut, keine Antwort auf die Fragen, die Bergsteiger oft mit sich tragen. Die Berge haben viel Grosses an sich, aber keine grossen Antworten. Sie haben ja nicht einmal grosse Fragen. Buddha-gleich hocken sie da. Ob ihre Häupter ins Nirwana reichen oder ob sie da oben nur leere Luft haben, das bleibt Ansichtssache. Bei Caroline Fink lässt sich in diesen Ansichten seitenweise schwelgen. Die Alpinistin, Autorin, Fotografin und Filmemacherin hat dieses Jahr auf den hochragenden Stapel der alpinen Bildbände ein Fotobuch gelegt, das bemerkenswert ist in seiner Konsequenz. «Silence» ist eine Sammlung von Fotografien, die auf ihren Touren entstanden. Nichts Spektakuläres hebt diese Aufnahmen hervor. Selbst die Bildsprache nimmt sich zurück und öffnet eine Ruhe, die nicht inszeniert werden kann, aber vorgefunden. Es sind schlichte Motive, Nebel, Verwehungen, Schneeweiss, das in Himmel übergeht, auf manchen sind nur noch Farbverläufe zu erkennen. Sie selbst sagt über diese Aufnahmen, dass sie erst gar nicht gewusst habe, was sie an ihnen fand. Doch waren und blieben sie stille Freude. Der Alpenwelt mangelt es nicht an fotografisch kunstvoller Darstellung, die Coffee-Tables biegen sich. Doch nach dem ästhetischen Genuss dieser Prachtbände bleibt das un- bestimmte Gefühl, dass die Faszination der Berge nicht in ihrer Abbildung zu fassen ist. Der Erfolg von Caroline Finks «Silence» rührt wohl auch daher, dass in ihm nicht allein das Auge angesprochen wird, sondern die Erinnerung an selbst Erlebtes erwacht. Das lauteste in der heutigen Mediatisierung der Alpen ist vielleicht die Stille.

Auch der Fotograf Stefan Hefele hat in den Bergen viel Ruhe gefunden, wenn auch eine gespenstische. Während vieler Jahre ist er zu verlassenen und vergessenen Orten gestiegen. Zu stummen Zeugen einstiger Betriebsamkeit im Alpenraum. Verklungen sind der Lärm auf römischen Handelsstrassen, das nachmittägliche Tee-Geklimper in Hotelpalästen, die geschrienen Befehle in den Gefechtsstellungen und das Klappern der Zoccoli in Bergdörfern, die niemanden mehr behausen, aus- ser den Geistern, die seltene Besucher heraufbeschwören. Den morbiden Charme hat Hefele in der heute gebotenen Idealisierung eingefangen. Stilecht folgt er den berühmten Vorbildern solcher Porträtserien. Es gibt sie über Detroit, Havanna oder russische Weltraumstationen. Doch zur Schönheit seiner Ruinen gehört, dass man sie einzeln aufsuchen muss, manche über mühsame Wege, und dank ihnen wird die Reise in die Vergangenheit nicht nur sinnbildlich, sondern – so hofft der Wanderer in die Geisterwelt – auch erlebnisreich. Der Autor und Alpenkenner Eugen E. Hüsler gibt uns in seinen Begleittexten das historische Rüstzeug dafür mit. Nicht jeder Geisterort erhält von ihm seine Geschichte nacherzählt, einige Pfade bleiben geheim. Aber wo kämen wir hin, wenn uns die Ausflüge in die Stille nicht vor allem zu uns selbst führten?

34 - Beat Hüppin: Donetta, der Lichtmaler

Artista, mi dispiace

Er hat die Moderne gehasst und war einer ihrer Pioniere. Das Streben nach Geld war ihm zuwider, doch ging es in seinem Leben um nichts anderes. Seine Familie liebte er, aber er verstiess sie. Und jetzt hat jemand einen Roman über ihn geschrieben, der keiner ist. Die Rede ist von Roberto Donetta, einem der faszinierendsten Schweizer Fotografen, den bis in die achtziger Jahre niemand kannte. Durch Zufall wurden Tausende seiner Glasplatten gefunden. Belichtet und gewürdigt hängen sie heute in Museen und Galerien. Donettas Geschichte beginnt und endet im entlegenen Bleniotal. Zu einer Zeit, als das Tessin nicht die Sonnenstube der Schweiz ist, sondern ihr Armenhaus. Die Kinder sterben an Mangelernährung und die Bergregionen erfasst eine Aussichtslosigkeit, die Männer zu Wirtschafts- flüchtlingen macht. Auch Roberto Donetta verdingte sich als Marronibrater in Italien, bediente englische Herrschaften im verhassten London. Während sich daheim die Frauen fast zu Tode krampften. Nicht gerade das Umfeld, in dem man sich einer neuartigen Kunst verschreibt. Doch Donetta tat genau dies. Er glaubte an die Magie, an das Licht, an das Vermächtnis eines befreundeten Bildhauers, der ihm eine Fotokamera überlässt, bevor er selbst auswandert. Als akribischer Autodidakt entzaubert Donetta das Handwerk und führt es zur Perfektion und später über die technischen Möglichkeiten hinaus. Dabei entfremdet er sich zusehends. Die Talbewohner, denen er ein Denkmal setzt, verachten ihn. Ein Vagabund sei er, der sich weigere, durch ehrliche Arbeit seine Familie zu ernähren. Dabei ist Donetta stolz, mit Samenhandel und Fotoporträts etwas Polenta auf den Tisch zu bringen, eine Handvoll Kastanien und manchmal ein Stück Käse. Mehr haben die anderen auch nicht. Noch sieht niemand, wie in seinen Aufnahmen das staunenswerte Abbild einer sich wandelnden Zeit entsteht. Wie seine fotografischen Experimente eine Modernität entwickeln, von der er in seiner Abgeschiedenheit nichts ahnt. Obschon diese neuen Zeiten in Biasca Station machen. Per Eisenbahn kommen seine Fotochemikalien, per Eisenbahn verlassen ihn Frau und Kinder. Der Schriftsteller Beat Hüppin erzählt nun – Jahre nach der Anerkennung des fotografischen Werks – eine Lebensgeschichte, die voller Not, Widersprüchlichkeit, aber auch Unbeirrbarkeit ist. Dafür hat er den immensen Schriftverkehr Donettas durchgearbeitet, dessen Journale, den steten Kampf mit den Gerichtsvollziehern. Doch seine Recherche verarbeitet er nicht zu einem fulminanten Roman mit ausgearbeiteten Figuren, literarischen Motiven und Handlungssträngen. Ein solches Zeitgemälde findet sich unerreicht in Plinio Martinis «Il fondo del sacco». Die Qualität dieser Biographie liegt in der dramaturgischen Zurückhaltung. Hüppin bleibt bei der getreuen Nacherzählung, lässt das Unbekannte im Dunkeln, füllt die weissen Flecken nicht und erzeugt dadurch einen ähnlichen Sog wie manche der besten Fotografien Donettas. Was verbirgt sich hinter der rätselhaften Unheimlichkeit? Wie dem Bild seines Sohnes, dem er eine tote Schlange auf den Bauch legt. Wie sind die Porträts zu lesen, die von riesenhaften Pflanzen verschluckt scheinen? Was hat es mit dem weiss gekleideten Baby auf sich, das von einer schwarz verhüllten Figur gehalten wird? Donettas Kunst entstand oft in Momenten, in denen er ins Bild eingriff, spontanen Eingebungen nachging. Ihnen ist er so hartnäckig gefolgt wie seiner Überzeugung, mit Fotografie ein Auskommen zu finden, es doch noch allen zeigen zu können. Heute sind es nicht zuletzt diese phantastischen, surrealen Aufnahmen, die ihn weit über sein Tal und seine Zeit hinausheben und die Lektüre von «Maler des Lichts» mit Spannung füllen. Das Geheimnis seiner Bilder bleibt unbelichtet, doch die Konturen ihrer Faszination sind geschärft.

33 - Anker, Bachmann: Gipfelziele im Tessin

Die unerträgliche Leichtigkeit des Genusswanderns

Chefredaktor:«Markus, ich will Dir ja nicht drein reden, ... aber ich muss.»
Kolumnist:«...»
«In der Höhe ist der Sommer frisch, der Schnee liegt sicher in den Stauseen, die Alpwiesen blühen, beste Zeit also, die Wanderschuhe zu schnüren, ...»
«...und in Deine Tessiner Berge zu ziehen.»
«... um die Neuauflage von Gipfelziele im Tessin zu zerpflücken»
«Versündige Dich nicht.»
«Keine Sorge, ... das wirst Du tun.»
«Deine Wanderbibel kritisieren?!»
«Ankers Bücher sind nicht Wort Gottes.»
«Immerhin die Worte eines Papstes, und der ist unfehlbar, auch wenn er fehlt.»
«Das gute Kartenmaterial fehlt.»
«Ich soll ihm also Ungenauigkeit vorwerfen? Dem Anker?! Der Mann merkt sogar, wenn Franz Hohler in der Beschreibung einer Selbstversorgerhütte den Farbton des Milchkachelis nicht trifft.»
«Frühere Ausgaben bestanden aus fünfzig präzise recherchierten Touren mit Farbabbildungen und so weiter. Im Nachfolger waren es schon sechzehn mehr, und heute? Achtundachtzig! Da sind nun Spaziergänge drin, ... Monte Caslano, ein Naturlehrpfad mit Schokoladenfabrik. 526 Höhenmeter! Und hier, beste Wanderzeit: ganzjährig. Ein solches Prädikat desavouiert doch jede Bergtour.» Blättert aufgeregt. «Siehst Du diese Karte?! Die taugt höchstens, um die richtige Autobahnabfahrt zu finden.»
«Landkarten sind allgemein überschätzt. Je schlechter die Karte, desto besser die Wildnis. Viel Schönheit liegt in der blossen Andeutung. Das Auge blickt befreit auf, streift über Matten, Felder und Gesträuch. Wälder sind zum Verirren da. Oh, wie lange träumt’s mir schon vom Wildwanderführer, der dem Naturfreund auf schön gestalteten, aber leeren Seiten allein die klangvollen Flurnamen mit auf den Weg gibt, die Urlaute, betörend und unbestimmt wie Wolken, ein jeder Umweg reich an Geschichten, zerkratzten Beinen, Beinah-Abstürzen und dem, was wir wirklich suchen: Abenteuer.»
«Du irrst.»
«Gerne und oft.»
«Anker eigentlich nie, aber was soll man davon halten, wenn er die lohnendste Tour, die Wanderung vorbei an zwei, nein drei Seen hinauf zum Pizzo Fiorèra, ... also wenn er die jetzt einfach weglässt? Wer die Evolution dieser Wanderführer mitverfolgt, der muss das als Affront empfinden.»
«Ich denke, auch hier ist Anker ganz Avantgardist. Sieh es als visionären Landschaftsschutz. Bevor der Fiorèra zum Ameisenhügel wird, streicht er ihn, streicht ihm also eben nicht den verdienten Honig aufs Haupt. Ein Akt des vorausblickenden Naturschutzes.»
«Wehret den Zuständen der Piazza Grande.»
«Wehret Venedig!»
«Meine Oma hat mir damals die erste Ausgabe gekauft. Es war in Lugano, ich war ein gelangweilter Zehnjähriger und sie sagte, geh in die Buchhandlung und kauf dir ein Buch, da kam ich mit Gipfelziele im Tessin zurück. Verstehst Du, seit ich durch die südlichen Berge streife, wandere ich Daniel Anker nach, und eines Tages reibe ich mir die Augen und finde mich auf den Brissago-Inseln wieder.»
«Ja, ich spüre das Ausmass der Enttäuschung.»
«Naja. Das meiste gute Zeug ist schon noch drin.»
«Ist aber auch töricht, im Tessin Zuflucht vor Familien und Rentnern zu suchen, oder?»
«Gipfelziele! Stand da. Es gäbe nun einige Touren, die man in die Familienreihe Bergfloh übersiedeln sollte.»
«Du rätst also vom Kauf ab.»
«Nein, ich rate dringend, aller Ausgaben habhaft zu werden. Nur schon, um am Grotto-Tisch mit Händen und Blasen an den Füssen mitdiskutieren zu können.»

32 - Matthieu, Bachmann, Butz: Majestätische Berge

Mit Verlaub, Eure Majestät, Ihr seid nicht meine Majestät

Man wundert sich über all die Bergsteiger, die von majestätischen Gipfeln sprechen, den Thronsaal der Alpen preisen oder von der Königsroute schwärmen. Sie lieben die Freiheit, aber machen sich zu Höflingen, sobald ihnen Grösse gegenübersteht. Frohgemut legen sie die Eisen an und besteigen ihren Piz Paradox. Aber wie kamen die  Gebirge eigentlich zu ihren monarchischen Titeln? Gesellschaftliches Ansehen erhielten die Alpen erst während der Aufklärung durch die Natur- und Freiheitsideale. Zur Blütezeit der Königreiche, waren sie nichts weiter als im Weg liegende Steinhaufen mit Bewohnern, die bestenfalls zum Söldnermaterial taugten. Es war kein vorgezeichneter Weg, der zu einer Alpenrezeption führte, die heute selbstverständlich erscheint. Umso interessanter ist er nachzulesen im eben erschienenen Buch «Majestätische Berge». Eine Bergtour, die uns zuerst in die Oper führt. Am 1. Mai 1830 fand in London die Uraufführung von Gioachino Rossinis  Guillaume Tellstatt. In Paris war der Armbrustschütze als Tyrannenmörder gefeiert worden. Für England schrieb man das Libretto auf einen genehmeren Freiheitshelden um, den Tiroler Andreas Hofer. Unter dem Titel Hofer, the Tell of the Tyrol trat nun ein Königstreuer auf, der sein Land gegen die Republik verteidigt. Wo der Schlusschor in Paris gesungen hatte:«Freiheit, steig wieder vom Himmel herunter, Dein Reich möge neu beginnen!», sang er in London:«Heil dem Hause Habsburg! Tirol ist der Krone zurückgegeben!» Die Sage vom Tell konnte also mit einem republikanischem, als auch einem monarchischen Bergler aufgeführt werden. Damit verkörperte er den Widerstreit der neuen und der alten Gesellschaftsordnung, die beide ihr eigenes Alpenbild propagierten. Wo den liberalen Kräften galt:«Auf den Bergen ist die Freiheit! Der Hauch der Grüfte steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte», sahen die Monarchisten in den Bergbewohnern «Kraft, Treue, Einfalt, ein noch unverdorbenes Geschlecht», das «während alles sich krampfhaft bewegt, ruhig als Muster dessen steht, wie es überall sein sollte.» Wo Republikaner die Landsgemeinden als Verwirklichung von Bürgerrechten idealisierten, erkannten die Royalisten eine ungerechte Pöbelherrschaft, die nur in kleinen Staaten funktionieren könne, in denen es keine sehr reichen Personen gebe. Ein Ende fand das Ringen um die Deutungshoheit erst, als die Hochwohlgeborenen ihre Schlösser verliessen und selbst in die Berge kamen. Sie sommerfrischten, jagten, entflohen höfischen Zwängen oder schickten ihre Sprösslinge auf Grand Tour, um ihnen Bildung und Charakter angedeihen zu lassen. Damit folgten sie einem Trend, den die aufklärerischen Eliten gesetzt hatten. Und es gefiel ihnen so gut, dass es etwa in Ischl bald zuging wie bei Hofe. Residenzen wurden gebaut, die Infrastruktur erweitert. Royal-Spotter konnten dem König nun auf einem Spaziergang begegnen, was wiederum dem Bürgertum so gut gefiel, dass die Kurorte der königlichen Familien, zu Tourismusmagneten wurden. Als dann auch noch die im Alpenraum entstehende Baukultur den aristokratischen Vorbildern mit Hotelpalästen nacheiferte, war der Wandel von der republikanischen Alpenbegeisterung zum «majestätischen» Alpenbild der Belle Époque vollzogen. Die Autoren führen uns elegant und erhellend durch diese Alpenliebe, die kühl beginnt und immer inniger wird, je ungemütlicher es für die Königshäuser in ihren Stammlanden wurde. Eine Lektüre, die viel Historie hinter die Schwärmerei packt und erklärt, weshalb wir in die Berge auf- und im Schlosshotel Royal absteigen. 

31 – Ralf-Peter Märtin: Die Alpen in der Antike

Action in Antik

Wer denkt, in den Alpen sei früher nicht so ein Zirkus gewesen, dem komme man mit der Antike, mit Elefanten, Menschenopfern und Weinanbau. Ein Rummel war da oben, da kracht einem das Älpleridyll in die Milchsuppe. Los ging es schon in der Bronzezeit, als nicht etwa Abgeschiedenheit und Ruhe in den Bergen herrschten, sondern oligarchisch organisierte Stämme, die Kupfer und Erz schürften, ein Handelsnetz aufbauten und die Alpen zum Bergbauzentrum Europas machten. Der Rohstoffhandel sorgte für einen immensen Bevölkerungsschub und soziale Hierarchien mit, sagen wir mal, sehr unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen. Die Berge, die den Vorvätern allein als Sitz der Götter getaugt hatten, waren nun frühzeitliche Industriezone. Ötzi wurde in sie hinein geboren und auch seine Geschichte wird von Historiker Ralf-Peter Märtin nicht romantisierend, sondern kenntnisreich erzählt. Archäologische Detektivarbeit braucht keinen angedichteten Kriminalfall, um hochspannend zu sein. Genauso wenig wie Hannibals Alpenüberquerung eine Mystifizierung, selbst dieser Klassiker ist in seiner historischen Wahrheit weit interessanter: Zwar bleibt bis heute unklar, wo der Feldherr seine Armee über die Berge führte, doch tat er es mit akribischer Planung, hochprofessionalisierten Truppen und geeigneten, da kleineren afrikanischen Waldelefanten. Von denen schlidderte keiner ins Verderben. Zum Verhängnis wurde den Kampfkolossen erst das nieselkalte Wetter der Po-Ebene. Hannibal war auch nicht der erste Feldherr, der das (eben überhaupt nicht) Unmögliche schaffte. Schon die Kelten waren über die Alpen in römisches Gebiet eingefallen, und als nach ihm noch die Kimbern und Teutonen folgten – letztere sollen jubelnd und mit nacktem Oberkörper auf ihren Schildern die Schneehänge hinabgeschossen sein – verlor Rom endgültig die Geduld mit dem «natürlichen Schutzwall» und machte sich an die Unterwerfung der Alpenstämme. Die Gebirge wurden systematisch romanisiert, die Pässe mit ordentlichen Strassen überzogen, Städte gegründet und die Geldwirtschaft eingeführt. Von dieser Zeit allgemeinen Profitierens klingen uns heute noch die rätoromanische, die ladinische und die furlanische Sprache. Doch die Tage der geschäftigen Transitzone waren gezählt. Nach zwei Jahrhunderten brach die Völkerwanderung den Alpendamm. Die Markomannen, Alamannen und Hunnen strömten über die perfekt ausgebauten Strassensysteme, für die sich die Römer nun verfluchten. Das Getöse, es nahm kein Ende. In «Die Alpen in der Antike» herrscht ein bunteres Treiben als auf jeder Skipiste. Dies geschieht umso eindrücklicher als mit Märtin ein Historiker erzählt, dessen fundiertes Wissen sich auch darüber erstreckt, wie man aus einem schier überwältigenden Stoff einen packenden Bestseller macht. Er reisst den Bergnebel der Geschichte auf und bringt Verblüffendes zum Vorschein. Vieles kommt einem auch bekannt vor: Der disruptive Klimawandel zum Beispiel (durch Rückzug der Gletscher wurden aus Jägern sesshafte Bauern, die Überholten zogen sich in die Wälder zurück, erinnert nur noch in den Sagen vom «Wilden Mann»), oder die fachgerechte Vorbereitung eines Krieges (Diffamierung der Gegenseite, Einbezug der Götter, Etablierung eines gerechten, also nötigen Kampfes.), oder der machtpolitische Einsatz von Religion (Bergklöster, eigentlich Heimstätten von Eremiten, wurden so gesetzt, dass sie als Kontrollzentren für die Handelswege fungierten). Eine Lektüre, die lange begleitet. Gut möglich, dass einem auf Skitour ein paar wutheulende Hunnen im Schneetreiben erscheinen. Sicher aber bleibt die wiederholte Erkenntnis: Wer die Vergangenheit verklären will, der darf nicht zurück blicken.

30 – Hans von Trotha: Im Garten der Romantik

Die Natur des Menschen

Zuerst einmal musste er sich aus ihr heraus kämpfen. Es war kein seliger Zustand, als der Mensch mit der Natur eins war in grünfinsterer Vorzeit, er wurde von ihr gefressen und verschlungen, musste sich seinen Platz schlagen, um aus ihr herauszutreten, sich freiroden und vom umherschleichenden Jäger zum schlauen Bauern werden, dem die Natur in winzig kleinen Königreichen untertan werden sollte. Er zog einen Zaun und grenzte sich ab. Teile und herrsche. Hier die Tiere, dort die Pflanzen, im Hause er selbst. Der Mensch zähmte im Garten seine Natur, nutzte und gestaltete sie und definierte unbewusst und in jeder Epoche neu sein Verhältnis zu ihr. Dass dies ein zwiespältiges ist, mag in dieser nicht einfachen Früherfahrung begründet liegen. Doch ungeachtet aller Domestizierung, ein Dämon lauerte ihm weiterhin: die kaum zu bewältigende Gewissheit von der Übermacht da draussen, von der Unfassbarkeit und dem eigenen Verlorensein darin. Hier halfen die Berge. Als die Engländer im 17. Jahrhundert zu ihren Kulturreisen aufbrachen, mussten sie gezwungenermassen über die Alpen, die ihnen «the rubbish of the earth» waren, aufgehäuft, um die schöne lombardische Ebene zu formen. Doch nur wenig später dienten die gleichen Gebirge dazu, ein Konzept zu etablieren, das den Menschen endlich enttraumatisierte: das Erschütternde wurde das Erhabene. In Dichtung und Malerei fand diese Vorstellung rasch Verbreitung und nicht zuletzt die Berggemälde von Caspar Wolf popularisierten diesen neuen Blick auf die steinerne Bedrohung. Der Mensch sitzt oder steht als Miniatur vor wonnig beleuchteter Bergkulisse, die er aus sicherer Warte betrachtet, ergriffen vom wohligen Schauer. Dieser ergänzende Begriff, der in der Literatur als Schauerroman in Mode kam, trug ebenso dazu bei, im Schrecklichen nun schwelgen zu können, da ein Ende erwartet werden durfte, das jeden Grusel in Wohlgefallen aufgehen liess. Damit hatte die Aufklärung, die der Natur mit strenger Ordnung und Vermessung beikam, den letzten blinden Flecken vereinnahmt. Die Unheimlichkeit konnte dank des Erhabenen und der Erfindung des wohligen Schauers gebannt, ja sogar genossen werden. Ein Berg war nicht länger schrecklich, sondern schrecklich schön. Dieser Behaglichkeit machte ausgerechnet die Romantik den Garaus. Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Mönch am Meer“ war ein Schock, der die Bergidylle mit der Ostsee hinwegfegte. Mit einem bleiernen Meer, das konturlos in eine Naturgewalt von Himmel übergeht, kein Halt, nirgends. Ein Abgrund in der Schwebe von Nacht und Tag, eine radikal entgrenzte Landschaftsdarstellung. Heinrich von Kleist meinte dazu:«...als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.» Die Natur war wieder dunkel, überwältigend, geheimnisvoll, gefährlich. Und dorthin wollten die Romantiker aufbrechen. Ihr Sehnen setzte sich über die Zäune der Gärten hinweg, sie träumten das Unbekannte. In Hans von Trothas Essay «Im Garten der Romantik» offenbart sich in frappierender Klarheit wie sich Naturbetrachtung kulturgeschichtlich gewandelt hat. Dabei liest sich dieses erhellende und geistesblitzende Lehrstück über Gartenkunst nicht allein im Kapitel über die ästhetische Erschliessung der Alpen als eine kluge Parallele zur Bergliteratur. Die Naturvorstellung des Menschen hat sich stets in seiner Verortung zu den Bergen verdichtet. Die Aufklärung etwa im Wanderer, der auf kontrollierten Wegen seinen Berg wie einen Garten in beglückender Betrachtung durchschreitet. Der Bergsteiger hingegen, der alle Pfade hinter sich lässt, von der Unendlichkeit träumt, die gewaltigste Natur aufsucht und sie am Ende in sich selbst entdeckt, ist ein purer Romantiker. Ob ihm das passt, oder nicht. 

29 – Jelena Martinovic: Bold Climbers

Wovon wir reden, wenn wir von Bergen reden

Ein Stein ist ein Stein. Oder doch ein Matterhorn? Eine Eigernordwand? Ein Schicksal? Eine Erfüllung? Ein Killer? Die Berge gibt es schon etwas länger. Doch seit es den Menschen gibt, erfindet er sie. Gibt ihnen Namen und Bedeutung, macht sie zum Symbol für eigene Belange. Er erfindet, was er vorfindet. Das ist so seine Art. Er steht vor dem Grand Canyon, aber im Grunde sieht er seine Verlorenheit. Die Gebirge sind steinerne Leere, bis jemand kommt und eine innere Landschaft in ihnen erblickt. Berge sind ein gigantischer Rorschachtest für alle, die ihnen verfallen. An ihren Zacken und Grate hängen verborgene Ängste und Sehnsüchte. Kein Wunder enden Gespräche über ihre Faszination sehr bald bei «Das kannst Du nicht verstehen». Tatsächlich wird uns das Innerste selbst eines geliebten Menschen immer fremd bleiben. Leidenschaften lassen sich nicht verstehen, nur teilen. Zum Beispiel mit Männern und Frauen, die sich in diese Welt hinein begeben, wie es nur sehr wenige wagen. Doch fallen sie, stürzen auch unsere Projektionen ab. Oder weshalb war Ueli Stecks Tod für so viele so schwer zu verstehen? Unglaublich sei dies, unfassbar. War es nicht in Wahrheit unglaublich und unfassbar, dass Ueli Steck sein Tun so lange überlebt hatte? Mit dem Bergsteiger Ueli Steck ist eine Lichtgestalt schweizerischer Selbstwahrnehmung  abgestürzt. Die liebgewonnene Vorstellung, dass Fleiss und Bescheidenheit halt doch der Weg auf alle Gipfel sei. Dass Athletik über das Abenteuer siege. Wer alles richtig mache, dem wird alles möglich. Diese Idee war gestorben. Und letztlich geht es immer um die Idee von etwas. Die Menschen hingen nicht mit ihm am Felsgriff, sie hingen mit ihm an einer Idee. Als Personen, als Gesellschaft. Ein paar wenige kannten Ueli Steck, doch eine ganze Nation kannte das Ideal, das er ihnen verkörperte. Auch wir einfacher gestrickten Wandersocken tun gut daran, immer wieder die Beweggründe unserer Liebe zu den Bergen zu erforschen. Erkenntnishöhen erwarten den solcherart Mutigen. Wer möchte, der kann dem sogar bequem auf der Couch nachgehen. Denn ab und an erscheint ein Buch, das gar nicht so tut, als würde es uns von der Welt der Berge berichten. Sondern darauf fokussiert, was wir über uns erzählen, wenn wir von den Bergen erzählen. Ein besonders schönes und aufschlussreiches heisst „Bold Climbers“ und versammelt Studien, Berichte und Essays aus einem mehrmonatigen Workshop der Künstlerin und Wissenschaftshistorikerin Jelena Martinovic an der Hochschule für Kunst und Design in Genf. In kühnem Layout kreuzen sich darin die Wege von Alpinisten, Filmemachern, Psychologen, Kunsthistorikern, Satanisten und Poeten. Mythologie trifft auf Erfahrungsbericht auf neobarockes Filmschaffen auf Medizinwissenschaft auf ästhetische Forschungsreise auf Unglücke und Glorie und stets auf imaginierte und erlebte Landschaften, die zur Leinwand wurden für den menschlichen Geist. Schliesslich ist er es, der, wenn überhaupt, die Berge bezwingt. In dem er die Naturgewalten durch ideologischen Mist kleinmacht und herabmindert. Oder sie zur Ewigkeit denkt – diese unbedeutenden Steinbrocken mit ihren läppischen Jahrmilliönchen in unserer Galaxie unter Galaxien.

28 – Winkler/Brehm/Haltmeier: Bergsport Sommer – Technik, Taktik, Sicherheit

Der Rest ist Risiko

Es war ein Nichts. Die Kletterei lag hinter uns. Beim Abstieg über ein Geröllfeld probierte ich die Beschaffenheit des Altschnees und kann weder sagen wie noch weshalb, doch ich glitt aus und wurde extrem schnell extrem schnell. Man könnte auch sagen, ich schoss auf die am Ende des Firnfelds wartenden Felsblöcke hinab. Pickel, Helm, Steigeisen gut im Rucksack versorgt, schlug ich ungebremst in blockigen Stein. Ab hier abweichende Versionen. Während ich Schussfahrt erinnere und das Aufschlagen der Füsse, sprechen mein Begleiter und kleinere Wunden davon, dass mich der Aufprall in die Luft geschleudert hatte, ich einmal überschlug und dann liegenblieb. Kein wilder Schmerz, etwas Schock, also wohl nichts gebrochen. Das viele Blut auf den Steinen unter mir schien unerklärlich, dann entdeckten wir ein kleines Loch unterhalb meines Knies, aus dessen Grund es weiss herauf leuchtete. Wir beendeten das mit einem Druckverband. Irgendwann stand ich dann auf und mein rechtes Fussgelenk kippte weg mit einem Geräusch, das ich niemandem beschreiben will. Auch halte ich mich zurück mit der dramatischen Darstellung. Man kennt sie. Man hat sie oft gelesen. Sie ist literarisches Instrument geworden, zu dem jeder schreibende Bergsteiger greift, um zu überhöhen, wofür ein jeder persönliche Gründe hat.* Ich selbst mochte die trockene Zusammenfassung des Chirurgen: Aha, Hochenergie-Trauma - Motorradunfall (kurzer Seitenblick zum aufgeschnittenen Schuh) oder halt Bergsport. Ich war gefallen. Aber wer das nicht aus der Eigernordwand heraus tut, sondern auf einem banalen Eishang, der stürzt doppelt ins Leere. Denn neben alpinen Herausforderungen, mit denen man mit Training und Verstand umzugehen lernt, gibt es noch etwas, das hinter dem Begriff Restrisiko lauert. Und das Restrisiko ist eine Bitch. Sie ist der Felsgriff, der jederzeit herausbrechen kann, der Stein, der sich unter dem Schuh dreht, die Wurzel, die unter hohem Gras zugreift. Immer da, nie sichtbar. Wem das Restrisiko mal die Glieder zerschlagen hat, der schaut im lieblichen Hang nur noch lockende Heimtücke, dem kann aus der Bergwelt ein Minenfeld werden,. Gegen offensichtliche Gefahren kann man sich schützen, aus Büchern** und Erfahrung lernen. Man kann sie meistern oder demütig umkehren, um wiederzukehren, wenn man ein besserer Bergsteiger geworden ist, ein würdigeres Gegenüber. Aber mit einem Minenfeld kann sich keiner messen. Es bleibt nur die Erkenntnis, dass einen keine Erkenntnis davor schützen kann. Geblieben ist mir auch, dass ich jedes mal, wenn ich die Augen schliesse, wieder das Eisfeld hinab schiesse. Und als ich vor ein paar Tagen mit meiner Kleinen einen flachen Hügel geschlittelt bin, wurde mir kurz schlecht. Ob ich je wieder Lust auf Bergbücher haben werde? Sie erfahren es demnächst an dieser Stelle. Fest steht nur eins: sobald ich wieder gehen kann, werde ich sofort wieder gehen. Der Angst muss man sich stellen. Nur schon aus Angst vor den Alternativen. Minigolf? Federball? Zumba?

 

* Ich am Berg, Gipfelerfolge Himalaya, Ego am Limit etc., diverse Verlage

** Allen voran: Winkler/Brehm/Haltmeier: Bergsport Winter – Technik, Taktik, Sicherheit. Bern: SAC, 2012, div. Überarbeitungen.

27 – Julia Calfee: A Glacier’s Requiem – With 12“ Vinyl Record

Requiem für einen Gletscher

Ich steige tief hinab in die kühle Höhle. Und siehe da, nach Jahrzehnten gibt mein Keller ein verschollen geglaubtes Relikt frei: meinen Schallplattenspieler.

Kurz darauf das erwartungsvolle Absinken der Nadel. Anhalten des Atems. Dann die ersten Töne. Es ist der Gesang eines Gletschers, sein tiefes Gurgeln, Knirschen, das plätschernde Stakkato seiner Auflösung, unerbittliches Tropfen auf polierte Kälte, ein Grollen im Innern, gläserne Schönheit zerbirst. Langsam - eine Ahnung nur - nähert sich uns ein Rhythmus, der weit ausserhalb unseres Zeitempfindens liegt. Er zerfällt in tickernde Takte, die sich überlagern, umkreisen und im weissen Rauschen vereinen - geschnitten in schwarzes Vinyl.

Dies ist eine kleine Geschichte der Zeit. Erzählt mit den Mitteln der Kunst, unserer besonderen Kommunikationsform jenseits von Sprache und System. Eine Möglichkeit, die uns Menschen bleibt, wenn der Umgang mit dem Klimawandel sprachlos macht.

Die Fotografin Julia Calfee hat für ihr Buch, zu der diese Vinyl-Scheibe mit den wunderbaren Ambient-Tracks gehört, ein halbes Jahr unterhalb des Valser Länta-Gletschers in einfachster Behausung gelebt. Ein für Calfees Arbeit typisches Vorgehen. Ihr berühmter Fotoband über die Bohéme im Chelsea Hotel entstand erst, nachdem sie vier Jahre selbst dort gewohnt hatte. Für ihr Porträt eines aussterbenden Nomadenstamms zog sie mit den Ureinwohnern ganze Winter durch Sibirien und die Mongolei. In der Schweiz näherte sie sich einem kalbenden, sterbenden Riesen. Ein tägliches Ritual mit Handmikrophon und analoger Kamera. Über Monate entstand so ein Archiv aus Tausenden von Tonaufnahmen und Fotografien. Doch es war nicht die Abbildung, die Julia Calfee interessierte. «Das meiste worin wir leben, ist ohnehin unsichtbar: Gedanken, Gefühle, Energie.» Als Fotografin sieht sie kein Paradox darin, dass ihr das Sichtbare unwichtig ist. «Für mich funktioniert ein Bild erst, wenn es ein Gefühl herauf zu beschwören vermag, das mit den Augen nicht zu sehen ist.»

Wohl wegen dieser Haltung überwinden ihre Aufnahmen den Kalenderkitsch und die Selbstverliebtheit konventioneller Gletscher- und Eisfotografien, die oft technisch brillieren aber inhaltlich dem Nullpunkt zustreben. Calfee präsentiert uns Bilder in grobem Schwarzweiss, hier umtänzeln keine Sonnenspiele das glitzernde Eis, huschen keine Nebelfetzen über imposante Kluften. Ihr Gletscherbild ist urweltlich. Man blickt in Schlünde, in ein Gebiss, einen Elfenbeinwald, in Gewölbe und Waben aus Stein, Dreck und Eis, durchschnitten von exakten Wasserlinien. Bilder einer machtvollen Geometrie. Kunst hat viel damit zu tun, wie tief sich jemand auf seine Sache eingelassen hat, wie weit er bereit war zu gehen - um etwas zurück zu bringen, das uns tiefer angeht, als schöne Betrachtung.

Während uns in Calfees Bild- und Ton-Aufnahmen ein Strom aus Assoziationen überfliesst, Kathedralen auf Kathedralen stürzen, verschiebt sich der Begriff vom ewigen Eis. Der Gletscher zeigt uns seine Vergänglichkeit. Seine innere Uhr tropft. Bis er verschwunden ist, aufgegangen in einer anderen Unendlichkeit: dem Blau des Meeres. 

26 – Buzzini, Venziani: Sotto la linea dell’azzurro – La via alta della Verzasca

Gang über die Gipfel

Es war nicht das Alter, es waren die Bewegungen, die ihm von weitem auffielen. Ruhige, präzis gesetzte Schritte, eine Beständigkeit im Gang, die ein Leben in den Bergen verrät, und dennoch glitt die Gestalt einmal aus, löste etwas Geröll. Der Fels muss dort oben brüchig sein, dachte der jüngere Mann. Aber es war nicht der Fels, der unter dem Alten wegbrach. Als er ihn auf einer Felszinne eingeholt hatte, nickten sie sich stumm zu. Keiner tat einen Schritt zur Seite. Neben ihnen die Leere. Der heisse Wind. Sie blieben kurz stehen, dann war er schnell an ihm vorbei gestiegen.

Die Via Alta della Verzasca ist eine gute Gegend, um alleine zu sein. Schon ihr Einstieg bedeutet für die meisten Umkehr. Steinschlägige Couloirs, über den Graten schwindelnder Tiefblick auf verlassene Hungeralpen. Noch vor wenigen Jahren, war dieser Höhenweg, alles andere als ein Weg. Er ist es auch heute kaum. Er ist die kühne Verbindung der Schutzhütten Borgna, Cornavosa, d’Efra, Cógnora und Barone. Weit unten blinzeln vereinzelt Lichter aus der Leventina und dem Valle Verzasca herauf. Er betrat die leere Hütte und fand den Alten am Tisch sitzend. Die beiden Gipfel dieser Etappe hatte der ausgelassen, und beiden war klar, dass sie sich auf dem Weiterweg jeden Abend in den Stuben dieser Selbstversorgerhütten antreffen würden. «Der Sugo reicht für zwei», sagte der Alte, ohne vom gefalteten Papier aufzublicken, in das er etwas Gras und Tabak krümelte. Der Jüngere hatte nicht viel auszupacken, und so sassen sie bald zu zweit und blickten hinaus in die von den Felswänden herabfallende Dunkelheit. «Ich bin immer auf die Berge gestiegen. Selbst als ich in Asien auf Montage war. In Borneo dann eben der Kinabalu. Du trägst alles mit hinauf. Auch Deinen Tod.»
«Darum kümmere ich mich, wenn’s soweit ist.»
«Seh’ ich genau so.»
«Hast Du Gewürze?»
Er packte seinen ausgebleichten Rucksack auf den Holztisch, öffnete die Riemen und zog ein paar Zweige Rosmarin aus der Innentasche. Er reichte sie ihm. Dann hustete er sehr lange, sein Taschentuch verbergend.
«Im Bett wird er mich nicht antreffen. Dafür sorge ich.»
Die nassen Scheite knackten. Hinter ihnen warf der Feuerschein die Schatten übers Gebälk.
«Die Malaien würden sagen, die Ahnen besuchten uns.»
«Etwas Gesellschaft schadet nicht.»
«Ich gehe lieber alleine.»
Schweigend assen sie. Dann rieben sie ihre Teller mit den Resten des Brotes aus und spülten sie im Waschtrog. Es war der Jüngere, der die Flasche fand. Kein Etikett. Als sie sich spät in der Nacht trennten, der Alte, um noch einmal zu rauchen, der Junge, um ein gewaschenes Hemd aus dem Wind zu nehmen, hörten sie noch von einander. Schritte im unteren Stock. Knarrende Stufen. Geräusche, die auch der Wind hätte sein können. Der jüngere schlief in einem wankenden, sich drehenden Bett. Öffnete er die Augen, kreiste die Zimmerdecke. Im Traum glitt er durch die Stimme des Alten und über Felstürme mit bröckelnden Simsen. Er roch das süssliche Marihuana des fremden Freundes. Einmal glaubte er zu hören, wie sich der Alte auf dem Abort erbrach. Dabei hatte der kaum getrunken.

Im ersten Licht des Morgens schnürte er die Schuhe im taunassen Gras. Das Gehen half seinen Kopfschmerzen. Er hatte die Küche geputzt, den Boden gewischt, die nassen Tücher über dem Ofen aufgehängt und die wenigen Abfälle in seinem Rucksack verstaut.  Nichts erinnerte mehr an die beiden. Schon gar nicht die Blutströpfchen, die er in der Latrine als erstes weggewischt hatte.

Sanft legten sich die Wiesen nach hinten, die Farne wogten im frühen Wind. Als er in die Felsen stieg, luden sie ihn mit gut gestuften Vorsprüngen ein, nahmen ihn auf. Später, auf einem moosbewachsenen Band sah er einen Vogel, der ihn erst musterte, dann flatternd aufstieg und im Himmel verschwand. Auf dem Gipfel rastete er kaum. Er stieg vom Poncione Rosso wieder hinab auf die Via Alta. Und von dort ganz hinab ins Tal. Er wollte dem Alten in der Capanna d’Efra nicht nicht begegnen. 

25 – Gustav Renker: Schicksal am Piz Orsalia

Schicksalsfragen des Heimatromans

Was verschweigen die Berge? Was geschieht mit der Wahrheit, wenn sie vom einzigen erzählt wird, der sie überlebt hat? Wie gesetzestreu ist der Mensch, wenn er weit über dem Gesetz steht? Also, sagen wir mal, hoch auf einem Felsvorsprung in gerader Schusslinie zum umher streifenden Sauhund, den man schon lange und am liebsten...? Was macht es mit einem Schmuggler, wenn er auf seinen Schleichwegen nicht Reis und Pasta führt, sondern von der SS verfolgte Frauen, Männer und Kinder? Wer steht für die Schweiz im zweiten Weltkrieg? Jene, die den Judenstempel angeregt haben, oder jene, die das eigene Leben riskierten? Und was ist mit den Familien, die ihr Dach und Brot geteilt haben? Ist Profit das einzige, das im Krieg aufblüht? Was geschieht mit Erinnerung, wenn sie nicht von denen erzählt wird, die dabei waren? Ist der Heimatroman Propaganda oder Opium? Soll er erbauen oder einlullen? Warum hat er es nie zum Western geschafft? Liegt’s an den Helden? Wer wird in den Bergen überhaupt zum Helden? Ueli Steck, der die Eigernordwand hochrennt? Oder der ängstliche Stadtjunge der das Zicklein des weinenden Mädchens vom Felssims holt? Was geschieht mit Kitsch, wenn man ihn tief in Zeitgeschichte taucht? Was, wenn der dickliche Junge nicht ein Zicklein vom Felssims rettet, sondern ein zitterndes Flüchtlingsmädchen? Wem nützt ein verkitschtes Heimatbild? Wem nützt ein verkitschtes Weltbild? Und wen kümmert das alles, wenn er auf einem einsamen Berggrat an eine Grenze stösst und einem Menschen in die Augen blickt? Was verschweigen die Berge?

Gustav Renker jedenfalls hat nicht viel verschwiegen. Über 100 Heimat- und Bergromane hat er verfasst und gehörte zu den meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Dabei sah er in den Bergen keine idealisierte Traumwelt. Als begeistertem Kletterer und Naturfreund waren sie ihm Fluchtort vor den «ameisenlauten Städten» und Lebensraum, in dem er aufgegangen ist. Man spürt dies in seiner Sprache, die dem Genre entsprechend klar und einfach fliesst, aber bei den Bergbeschreibungen inne hält und selbstvergessen zu beeindruckender Literatur wird. Dennoch waren es wohl andere Besonderheiten, die dazu führten, dass sein Roman Schicksal am Piz Orsalia jüngst als einziger aus der antiquarischen Versenkung gehoben und neu aufgelegt worden ist. Vielleicht, weil er aus einer Zeit zu uns spricht, als die Flüchtlingsfrage in der Schweiz kein kleinliches Gejammer war. Vielleicht weil es herrlich zu lesen ist, wenn es mit einem Meister des Oberflächlichen für einmal so richtig durchgeht. Denn hinter der lieblichen Bergkulisse des Tessiner Bergdorfs Bosco Gurin wüten die Nazis. Als Vergeltung für die 44-tägige Freiheit der Partisanenrepublik Ossola und gewiss auch aus Ärger über die unfähigen italienischen Faschisten. Es brennen die Alpen. Derweil die braven Frauen und Männer auf der Schweizer Seite die Schmugglerware im Risotto geniessen und den Handel organisieren. Zwei pflichtbewusste Beamte bewachen die Übergänge, wo sich die Grenzen des Gesetzes und der Menschlichkeit täglich etwas mehr verschieben. Beide meinten, die Welt der Niederungen hinter sich gelassen zu haben, aber beide werden von ihr eingeholt. Der eine gar von der Liebe, die natürlich nicht sein darf. Gustav Renker weiss, was er seinem Genre schuldet. Die Kontroversen, sein unverhohlener Anti-Militarismus, die korrupte Christensekte, all dies trägt er im reinen Klang der Heimatmelodie vor. Es rauschen die Tannen, es liebäugelt das Hüttenglück, bevor er im Schneesturm der Gefühle die Verhältnisse noch einmal mächtig durcheinander wirbelt und die dräuende Jahrhundertlawine über seine doch nicht so abgeschiedene Welt hernieder fahren lässt. Heimatdonner!

24 – Gian Rupf, René Schnoz: Bergtheater

Ein Tisch ist ein Berg ist ein Abgrund

Zum ersten Mal begegnete ich ihm im Zentrum für Gegenwartskunst bei Scuol. Ich hatte gerade eine Ton-Installation aufgebaut über Skiliftbügelgeber, die Bademeister der Berge, die Idole meiner Kindheit. Da trat dieser neugierige Hüne herein, zwängte sich in das enge Lifthäuschen und sog geräuschvoll die Luft durch die Nase. «Ahhh, hier riecht’s nach...nach Mann!» Gian war damals ein junger Schauspieler, der im Keller der Ausstellungsräume zwischen alten Heizungsrohren und viel Gerümpel sein erstes Solo erarbeitete. Nach vielen Jahren auf deutschen Bühnen inszenierte auch er ein Stück eigene Kindheit unter dem Titel Milch Lait Latte. Die theatralischen Bilder flogen einem nur so um die Ohren, Erinnerungsfetzen aus Super-8, Obszönitäten, ergreifende Stille und am liebsten alles gleichzeitig. Gian explodierte nach allen Seiten. Wir verloren uns nicht mehr aus den Augen. Bestiegen Berge zusammen, streiften durch die Nächte Zürichs. Hier nun meine völlig voreingenommene Empfehlung: Bergtheater von Gian Rupf und René Schnoz. Ihr erstes Stück Bergfahrt von Ludwig Hohl war eine Auftragsarbeit für die Tagung zur Alpinen Literatur von Emil Zopfi. Eigentlich ein Himmelfahrtskommando. Denn nimmt man diesem Klassiker die Literatur, so bleibt nur wenig Story. Doch die beiden Schauspieler haben mit dramatischer Lust ganze Gebirgsmassive erstehen lassen. Sie hängen an Klapptischen, und wir sehen Felswände. Franz Hohler meinte dazu: «Wie kann man in einer Zeit der 3-D-Mount-Everest-Filme behaupten, ein rostiger Metalltisch
und zwei Stühle seien eine Gebirgslandschaft?» Man kann, wenn man’s kann. Das masslos reduzierte Stück ging zwei Jahre auf Wanderschaft. Buchstäblich. Führten es die beiden doch in beinahe allen SAC-Hütten der Schweiz auf. Vor müdem, sonnenverbrannten, aber begeistertem Publikum. Mancherorts auch direkt unter der dunkel dröhnenden Nordwand. Es sagt viel über zwei Mimen, wenn sie vor solchen Kulissen ihr Publikum bannen können. Natürlich trafen sie auch auf Hüttenwarte, die sie begrüssten mit: «Ah, ihr seid also die Clowns». Sprüche, für die man von anderen herzhaft eins in die Fresse bekommen hätte. Aber Gian sieht nur so aus, als würde er solches mit einem Lächeln tun. Er ist heute ein Schauspieler, der seine Energie drin lassen kann, der umso gewaltiger wirkt, wenn er still wird. Der neben ihm drahtige René Schnoz ist ihm idealer Mit- und Gegenspieler. Ein Sympath oder verschlagener Hund, wenn er will. Humoristen beide, wenn’s sein soll. Doch bei aller Unterhaltsamkeit werden ihre Figuren nie zu Witzfiguren. Zu gross ist der Respekt der beiden. Vor den Bergen. Vor den Dramen darin. In Frisch am Berg gaben sie beide den Max Frisch, duellierten sich mit der Tabakspfeife. In Meinetwegen zugrunde gehen brachten sie die Tödi-Tragödie von Hans Morgenthaler als Schattensprechspiel auf jede Felsplatte und jeden Dorfplatz, der ihnen Bühne wurde. Eine konzentrierte Würdigung dieses wenig bekannten Dichters, Alpinisten, Irrenhäuslers und wohl leidenschaftlichsten Grenzgängers der Schweizer Bergliteratur. Mit Ein Russ im Bergell liessen sie die kauzigste Seilschaft der Alpingeschichte wieder auferstehen. Den bourgeoisen Baron Anton von Rydzewski und seinen Bergführer Christian Klucker aus dem Fextal. Sie hassen sich vom ersten Höhenmeter an und leisten doch 10 Jahre lang Pionierarbeit. Wiederum genügt eine Leiter als Requisite, um uns in die Abgründe mitzunehmen. Im neuesten Stück ist nun fertig mit Berghistorie. Diesmal geht’s den Heutigen an den Kragen. Der Kletterpionier und Schriftsteller Roland Heer hat ihnen die Story von zwei Mitfünfzigern geschrieben, die es noch einmal wissen wollen. Der Vorabend in der Hütte wird zur alkoholgetränkten Schlüsselstelle. Die Premiere ist im Zürcher Sogar-Theater. Danach gilt es, die Augen in Richtung Berge offen zu halten. Die beiden sind jede Anreise wert. Und ich freue mich jetzt schon, wenn in zwanzig Jahren ihr letztes Stück Bergtheater von zwei alternden Schauspielern handeln wird, die ihr Leben lang mit Theaterstücken zu Berge gegangen sind.

23 – Adi Kälin: Säntis – Berg mit bewegter Geschichte

Kein Everybody’s Karling

Der Säntis ist einfach zuviel des Guten. Schon um die Jahrhundertwende bemängelte ein Touristenführer sein Gipfelpanorama als «überreich», «zu wenig spezialisiert». Ein  Ausblick wie über «das Dachgewimmel von Paris». Zeitgenössische Nörgler sehen die urbanen Schrecken eher andersherum. Ihr Dauerbrenner: der Säntis sei ein weit sichtbarer Schandfleck, weil man ihm eine Kleinstadt auf den Kopf gesetzt habe. Ohne Zweifel ist sein Gipfel eine High-Heel-Zone. Aber schon einmal hat ein Naturforscher den Säntis als «Damenberg» abgetan, worauf er sogleich in böse Bergnot geriet und den Säntis zur Strafe -  oder in nachträglicher Würdigung - einen «schlecht gelaunten Himalaja-Riesen» nannte. Auch jenen Sünneli-Anbetern, die meinen im Guten das Schlechte erkennen zu müssen, im Netten das Böse und im Gemässigten das Verächtliche, müsste der Säntis geradezu Feindbild sein. Dieser Gipfel der Gefälligkeit. Einer, der’s mit allen gut meint. Ohne sich deswegen gleich zur Rigi zu machen. Aber auch ohne zu provozieren wie ein Eiger. Der Säntis vereint Bergfreunde aus allen Lagern. Er ist ein zugänglicher, aber mit schroffen Ecken und Kanten. Die haben ihm die Würde bewahrt, trotz Schwebebahn und einem Gefühl von Autobahnraststätte auf den letzten Gipfelmetern. So wird er von Bergtüchtigen genauso bestürmt wie von Käffeli-Grüppchen. Wer den Säntis mit Skiern befahren hat, der liebt ihn dafür, dass er sich dem Skizirkus entzieht. Der Säntis ist populär, aber eben kein Schätzeli. Ein Berg, der vielen Heimat bedeutet. Aber nicht wie eine Francine Jordi, sondern vielleicht wie ein Adolf Ogi. (Auch einer, der heute mit Gegenwind in der Landschaft stünde.) Jüngst hat der Säntis, der eben kein markiger, alleinstehender Karling ist, sondern gmögiger Höhepunkt des Alpsteins, dieser weder kleine noch grosse, ganz sicher nicht unberührte aber auch nicht verschandelte, dieser ein bisschen hervorragende, aber mittelständische Berg eine Monographie erhalten, die alles richtig macht. Was heisst, dass sie eben mehr macht als alles nur richtig. In einer Literaturgattung, die kaum zu spektakulärem aber oft zu lehrerhaftem neigt, sticht sie hervor mit Stil und Schönheit. Keine schon beim Erscheinen verstaubte Aufmachung, sondern wunderbare Typographie, geschmackvoll editiertes Bildmaterial, griffig grobes Papier im Wechsel mit Hochglanz, ein modernes nicht modernistisches Buch, das sich gestalterisch weder auf Rückbesinnung ausruht (ein Problem vieler Bergbücher) oder in Originalität verliert (ein Problem vieler Bergbücher), sondern prächtig zu liegen kommt zwischen den noblen Coffee Table Beautys der Welt. Eine solche Berg-Monographie ermöglicht den Zustieg einem erweiterten Publikum. Und das haben die Texte von Adi Kälin mehr als verdient. Klar und dicht erzählt er von Höhlenbewohnern, Künstlern, Lastenträgern, Bergsteigern, Murmeli-Ansiedlern, Swisscom-Technikern und der Wirte-Dynastie der Dörigs. Von Richard Wagners Mühen und Marc Girardellis Privatskilift. Von Albert Heims lebenslanger Liebe und selbstverständlich vom Doppelmord am Wetterwart und seiner Gattin in der Abgeschiedenheit des Winters anno 1922 durch den unseligen Gregor Kreuzpointner, bekannter Bergsteiger, Nebenbuhler und Haderlump. Ja, der Säntis verfügt neben der obligaten Sage auch über einen handfesten Thriller mit Pistole. Adi Kälins Buch ist eine kenntnis- und anekdotenreiche Tour von allen Seiten und herrlich anzusehen. Es führt durch düstere Felshöhlen und freundliche Gasträume, über sonnige Matten und blutigen Schnee, es erhellt historisches Terrain, das Abenteuer einer Weltraumstation und lässt uns stets die Schönheit dieses Alpstein-Gipfels im Auge behalten. Wäre ich ein Berg, ich würde meine Monographie im Hier-und-Jetzt-Verlag haben wollen.

22 – Claudio Andretta: Orte der Kraft im Tessin

Zauber unserer Herbstwälder

«Was soll ich sagen? Ich war dabei, als er zum ersten Mal Kraftorte hörte. Unsere Sonntagspaziergänge hatten von nun an ein Ziel. Bald auch unsere Ferien. Die gesamte Literatur hat er verschlungen - mein Ruedi, der nie mit einem Buch in der Hand erwischt worden wäre. Wir haben die Grotte von Cumae besucht, waren in den karpatischen Wäldern und rasteten auf Waldlichtungen, die in alten Sagen beschrieben stehen, dort natürlich bestückt mit flackernden weissen Frauen, Blutfehden oder Hexenmorden. Das gesamte Gruselzeug, nur um ein Fleckchen Wald interessant zu machen. Ich habe nie verstanden, was er sich von diesen Plätzen versprochen hat, von den sowieso nie beweisbaren Boviswerten, den tellurischen Reizstreifen. Seine Enttäuschung natürlich immer enorm, die Tage nach unseren Expeditiönchen schwer auszuhalten. Ich habe ihm sein Lieblingsessen hingestellt und meinen Mund gehalten. Aber hätte er aufgehört? Es war ja nicht nur schlecht, dass er wieder was hatte, so ein Jahr nach der Kündigung. Der Fernseher blieb jetzt öfter aus. Aber die Spinner, die er sich in sein Kellerstudio einlud, die hätt’ ich nicht haben müssen. Wie sie da rumgeklappert haben mit ihren Wünschelruten, diese Zausel in abgewetzten Cordhosen. Und erst die Detektoren, die aussahen wie selbst gebastelte Staubsauger. Eines Morgens erhob er sich von seinen Aufzeichnungen und ging, ohne die Tür hinter sich zu schliessen. Volle drei Tage blieb er weg. Als ich dann mal langsam die Nummer der Polizei raussuchen wollte, stand er wieder da. Es war, wie sie immer gesagt hatten: Wer nur lange genug nach seinem Kraftort sucht, der wird von ihm gefunden. Ruedi ist in den Wald marschiert, auf eine kleine Anhöhe und von dort ins Innere einer kreisförmigen, verwachsenen Baumgruppe. Dann erst einmal Stille. Ich wusste es sofort, als ich ihn im Türrahmen sah. Seine Augen blickten klar und fest. Er sprühte vor Energie. Sein Haar wurde wieder voller. Im Schlafzimmer... , also ich hab' nicht nein gesagt. Was dann kam, kennen sie aus der Zeitung. Bald musste er die Haare auf seiner Brust trimmen. Es spross auf seinem Rücken, den Armen, sogar sein Arsch war wie von Fell überzogen. Es hörte einfach nicht mehr auf. Jeden Tag hat er sich den Körper rasiert. Doch abends schlüpfte er wieder als Affe ins Bett. Mit seinen geliebten Kreuzworträtseln war’s auch vorbei. Versuchen sie mal einen Stift zu halten, wenn sich die Fingernägel zu kringeln beginnen. Jeden Tag stellte ich zwei volle Abfallsäcke vors Haus und zeigte den Fotografen hinter der Gartenhecke den Finger. Die Muskeln schwollen ihm und schmerzten. Wo er ging schleifte er eine Haarschärpe hinter sich her. Er war einfach nicht mehr derselbe. Schon klar, kamen wir kaum noch unter die Leute. Dem Yeti in der Migros begegnen? Dabei tat er doch niemandem was. Nur die Ärzte waren begeistert. Die konnten gar nicht genug bekommen von ihren Tests. Seine Zellen platzten vor Unternehmungslust, mutierten drauflos, machten rum, vereinigten sich, die drehten völlig durch. Natürlich hatten die Kraftort-Freaks ihre ganz eigenen Theorien dazu. Ruedi war jetzt ihr Star. Wie Jünger liefen sie neben ihm her und begleiteten ihn auf seinem Weg in den Wald, wo er fortan lebte. Jetzt war er nicht länger das Versuchstier, hier war er Ruedi, der Waldmensch. Einmal habe er den Mond angeheult, nur so zum Spass. Aber machen wir uns nichts vor, sein Leben blieb gehetzt. Gewandt bewegte er sich durchs Gehölz, sprang auf Äste, lieferte sich Rennen mit verängstigten Füchsen, packte Tannen am Schlafittchen und schüttelte sie durch. Er glaubte, wenn er diese neuen Instinkte erforschte, käme er dem Wald näher. Ruhelos suchte er die geheimnisvollen Kräfte zu verstehen, die in ihm rumorten. Er spürte den alten Bäumen nach, betrachtete die Stämme toter Riesen, roch vergangenen Stolz, der nur noch Moder war. Immer tiefer drang er ein. Doch der Wald wurde ihm nur dunkler und kälter. Klar, versuchten sie ihm zu helfen. Mit Tränken und Wurzelsuden, weiss der Teufel, von wem überliefert, Druidenwissen, doch Ruedi dämmerte es längst. Ich denke, er brauchte einfach seine Zeit, um sich zu stellen. Er wusste doch, wo die Antwort auf ihn wartete. In jener Novembernacht deckte er sich mit seiner schweren Haardecke zu und starrte durch die Zweige seiner Hütte in den Regen, der senkrecht und ruhig stand. Wieder verschwand er für drei Tage. Sie suchten und fanden ihn bei der kreisrunden Baumgruppe. Mit aufgeplatzten Adern, ein muskelverquollener Körper in alle Richtungen verdreht, riesenhaft. Stücke seines Darms hingen leuchtend rot in den Ästen wie Fetzen eines geplatzten Lastwagenreifens. Aus seinen Augenhöhlen rann gelbes, geschmolzenes Hirn. Ameisen krabbelten darin wie trunkene Partygäste im Glibber. Mein Ruedi, er war immer ein feiner Kerl gewesen.»

21 – Stefan Bogner: Escapes – Traumrouten der Alpen

Im Geschwindigkeitsrausch der Berge, Teil 2

Der Tag ist noch frisch, kaum richtig da, kühl und jung. Ein leises Klacken, ein zweites. Die Klickschuhe machen mich fest am herrlichen Stahl unter mir, machen mich eins mit der Eleganz und der Schnelligkeit, die ein perfektes Rennvelo selbst den Amateur spüren lässt. Der Bergsteiger in mir fühlt sich an Skitouren erinnert, wenn endlich die Bindung einrastet, und es in der Kälte losgeht auf geschwungenen Bahnen durch den Schnee in die Höhe. Doch dieser Morgen ist anders. Rasch rollt er an und nimmt Fahrt auf. Die Oberschenkel pumpen ruhiges Blut. Zwei Kolben, die nicht mehr still stehen sollen bis der Gipfel erreicht ist. Wobei der in Wahrheit gar keiner ist. Ein Pass bloss. Übergang für die einen, Himmel und Hölle für die anderen. Beständig drehen die Räder. Geschmeidig packen die Zahnräder zu. Das Herz pocht und nicht nur die Strasse windet sich. Die Luft des Morgens strömt tief in meine Lungen. Die Steigung lässt sie noch köstlicher werden. Dann das erste Wrrrooaaaamh!!! Keine tief tuckernde Harley, sondern die Ducati Monster. Oder doch die Streetfighter? Der Routinier erkennt die Motorräder, bevor sie einen überholen?, schneiden?, touchieren? Heute werden es 83 gewesen sein, bevor ich ihnen auf der Passhöhe wieder begegne. Sie treten in farbig ledrigen Rudeln auf oder als mit Fransen behangene Lonely Rider. Aber den Wurstsalat im Hospiz mögen alle. Ich mag es, auf der Passhöhe nicht einmal anzuhalten, mit wieder erlangter Leichtigkeit geräuschlos vorbei zu gleiten, aufrecht im Sattel, freihändig im Wind. Der kleine See glitzert. Das Lycra der Radsporthelden schillert zurück. Es bleiben noch wenige Meter Entspannung, dann greifen die Hände wieder ins straff gewickelte Leder, die Schussfahrt setzt an. Mein Herz  sinkt in die Magengrube und schnellt - nun rasend - zurück. Der Berg als Achterbahn, die auf dem Scheitelpunkt lächelt, bevor sie einen in den alles mit sich reissenden Rausch stürzt. Mein Rennvelo ist jetzt ein scharfes Messer, das die Luft entzwei schneidet, die Geschwindigkeit lässt mich zittern, bevor sie in meinem Kopf den Vernunftschalter auf Aus schaltet. Ich lege mich nieder, tief in die Kurven, was für ein Fest. Mein Jauchzen hallt an den Bergwänden wider, und könnte ich noch denken, würde ich an erwachsene Männer denken, die in stiebender Schneeabfahrt wie kleine Buben ins winterliche Blau juchzen. Aber diese Abfahrt ist anders. Ich bin nackt in den Elementen. Der Asphalt ist kein Schnee. Ungeschützte Lust. Fühlt sich Fliegen so an? Free Solo Climbing? Wie konnte ich all die Jahre die Berge durchstreifen und dieses Glück übersehen? Seit gestern, 14.35 Uhr, stehen in meiner Bergbuchbibliothek zwei neue Bildbände: Escapes –Traumrouten der Alpen. Auf über 200 Seiten Serpentinen, Kurven und Steilstrassen, die Stefan Bogner, der Neffe des Skistars Willy Bogner, als gewaltige Landschaftsaufnahmen inszeniert. Darin ein einziger Rennvelofahrer, sonst kein Mensch, kein Kiosk, kein Flaggenzirkus, kein Oldtimertreffen und kein Verkaufsstand mit Murmeli-Kräutersalbe. Fotografien, die mal nebelverhangen sind, und Texte, so knapp, dass sie der Poesie dieses Werks nicht im Wege stehen. Beredter dagegen, das soeben erschienene Passbilder – Landschaften der Alpenpässe. Neben den ebenso eindrucksvollen Fotografien von Berthold Steinhilber ist es hier dem Zürcher Eugen E. Hüsler zu verdanken, dass einem klar wird, dass die Geschichte der Alpen nicht mit den Erstbesteigungen, sondern in der Bronzezeit begann. Doch eigentlich genügt auch hier die Pracht der Bilder, der Anblick nackter Strassen. Kletterer, die stundenlang in Felswänden lesen können, werden mich verstehen.

20 – Dominik Flammer, Sylvan Müller: Das kulinarische Erbe der Alpen

Gipfelgruss aus der Küche

Kulinarisch ist der Aufstieg in die Berge oft ein Abstieg in die dunkelsten Tiefkühltruhen. Die Käseschnitte ertrinkt, die Fondues kommen einem nouvelle-exotisch und einheimisch ist am Hirsch nur der gepfefferte Preis. Dabei liessen sich viele dieser tragischen Bergunfälle mit einfachsten Mitteln vermeiden. Etwa durch die achtsame Verwendung von Alblinsen, Lammbries, , Dörrkastanien, Karpfenmilch, Taubenkopf-Leimkraut, Illzer Rosenapfel, Erdbeerspinat, Flageolet, Murmeltier, Saucisse au foie, Bärlauchkapern, Lesachtaler Brot, Lionga di tartuffels, Römische Schmalzbirne, Bluatnudeln, Saiblingskaviar, Mustarda delle Valli Valdesi,  Weisse Herzkirsche, Spampezi, Anisbrötli, Sura Kees und Älplerschokolade. Oft dünkt einen, man habe selten so gut gegessen wie auf einer Bergtour. Die frische Luft, das freie Herz, der gesunde Hunger. Dabei hatte man gerade die lausigste Industriewurst aus dem Rucksack gezogen, die je das Prädikat «huusgmacht» aufgelogen bekommen hat. Weisse Fettwürfel innen, Schamesröte aussen. Schmecken tut sie trotzdem, wegen der vorangegangenen Strapazen weitab jedes gedeckten Tisches. Nicht auszudenken, was mit derart geschärften Sinnen geschehen wäre, wenn Flussbarschbottarga, Leindotteröl, Dinkelreis, Wollschwein, Castelmagno, Echter Steinklee, Schüttelbrot, Mehlbeerenbrot, Hirschbirne, Schattenmorelle, Kubebenpfeffer, Quittenpästli, Ribelmais, Teufelskrallen und Torrone aus dem Deckelfach hätte ziehen können. Ein weiteres Geheimnis, das die Berge gerne verschweigen: Die Capuns schmecken im Tal oft besser, als ihre Fertigpack-Verwandten, denen nicht einmal der betörende Duft des Arvenstüblis zu Geschmack verhelfen kann. Und warum karrt man den Speck mit dem Lastwagen aus den Niederungen herbei, statt mit der Schubkarre von der Alp nebenan? Es gibt doch Milzwurst, Capra Grigia, Berner Zungenwurst, Bratblutwurst, Aromahopfen, Buchweizenhonig, Burgunder-Trüffel, Buttenmost, Linthmais, Moutard de Bénichon, Nacktgerste, Zuckerwurzel, Franzosenkraut und Zitronenbirne. Gut möglich, dass leichtes Touristengeld ein paar nicht ganz so charakterstarke Wirte die Billigware haben kultivieren lassen. Doch der Alpenraum war und ist eine berauschende Speisekammer, die Schätze birgt, die jeden in Mayonnaise ersäuften Wurstsalat erbleichen lassen. Die Äcker, Gärten, Wiesen und Wälder, die der Wanderer des Tages durchstreift, könnten ihm auch abends leuchten mit Delikatessen, denen kundige Produzenten wieder zu Tafel-Gloria verhelfen. Dominik Flammer und Sylvan Müller haben ihnen während sieben Jahren nachgespürt (eine Alpendurchquerung, bei der man gerne dabei gewesen wäre). Ihre Bücher unter dem Reihentitel Das kulinarische Erbe der Alpen sind Küchenklassiker geworden. Jüngst haben die beiden eine Enzyklopädie nachgelegt, die einem alphabetisch und nach Region das Wasser im Mund zusammen laufen lässt. Wobei der Küchen- auch ein Lesegenuss ist, so klangvoll sind die Namen und Begriffe, die aus früheren Zeiten locken. Die Enzyklopädie der alpinen Delikatessen ist ein Kompendium nicht nur für Profis, eine reich illustrierte Augenweide mit süffigen Photographien und obendrein ein Wegweiser zu Bezugsquellen, zu umfassenden Brot- und Guetsli-Archiven und zur Käsegeschichte in all ihren Krümeln. Wer auf seinen Wegen dieses Buch erblickt, kann beherzt einkehren. Und falls die Tagesetappe nicht an einem Ort endet, wo einem geschmackvolle Alpenküche juchzt, dann weiss man jetzt, dass sich fast alles genussreich hinunterspülen lässt. Zum Beispiel mit Bätziwasser, Abricotine, Kriecherlbrand, Absinth, Zirbengeist, Nusswasser, Lanvantaler Bananenapfelbrand, Bärwurzschnaps aus der Alpen-Mutterwurz,  oder dem bewährt beliebten Alpenbitter.

19 – Manfred Ruoss: Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens

Abstieg in die Tiefenpsychologie

Exzentriker allesamt, Abenteurer, Profilneurotiker, verrückte Forschungsreisende und Geltungssüchtige. Schon die ersten Bergsteiger eroberten das Nutzlose nicht aus nationalistischem, sondern aus persönlichem Wahnsinn. Auch der Höchste der Gefühle, der Everest, wurde nicht, wie Hillary meinte, bestiegen «weil es ihn gibt», sondern weil es sie gab: die Getriebenen, genauer: die Hochgetriebenen. Aber was treibt sie eigentlich, die wenigen Extremen und die vielen Begeisterten? Dazu hat beinahe jeder Gipfelstürmer sein Stück Hosensack-Psychologie parat. Doch damit müssen wir uns nun nicht mehr länger abspeisen lassen. Der Psychotherapeut Dr. Manfred Ruoss hat sich dieser Frage professionell angenommen und Alpinisten, die sich trauen, können jetzt nachlesen, aus welchen unheimlichen Quellen sich ihre Motivation speisen könnte. In seinem Buch Zwischen Flow und Narzissmus macht sich Ruoss auf den Weg durch exemplarische Autobiographien der Bergliteratur. Im Rucksack sein Wissen als langjähriger Psychotherapeut und die Erfahrung aus über tausend Patienten-Anamnesen. Als interessierten Bergsteiger, der sich selbst einen „alpinistischen Universaldilettanten“ nennt, war ihm aufgefallen, dass sich viele Berichte prominenter Höhenbergsteiger wie psychopathologische Befunde lesen. Alles scheint dort in leicht verschlüsselter Schreibe versammelt: Anzeichen von ADHS, Borderline, rücksichtslosem Narzissmus, Suchtverhalten, Kontrollwahn und Egomanie. Wo sich der Freizeitbergler einem erfüllenden Flow hingibt und mit Befriedigung aus der Natur zurückkehrt, kippt bei vielen Extremen die Rekordjagd in eine zwar freimütig beschriebene aber unerklärliche Leere und Depression. Bergsteigen ist eben doch komplexer als blosser Sport, und es scheint als böte diese Betätigung vielen psychischen Defekten geradezu ideale Entfaltungsmöglichkeiten. Ihnen spürt Ruoss in den Selbstdarstellungen berühmter Berghelden nach und blickt in Broken Homes, wo es von abwesenden Vätern nur so wimmelt oder solchen, von denen man sich wünscht, sie wären es gewesen. Leistung in den Bergen wird zum inneren Zwang, die beschädigte oder traumatisierte Persönlichkeit kurzfristig zu stabilisieren, sie wird zur verzweifelten Ersatzhandlung, die nach immer höherer Reizdosis verlangt und der alles geopfert wird. Spätestens hier durchfährt einen in diesem locker erzählten Buch ein eisiger Schrecken. Gelten doch unter Politikern und Wirtschaftsführern die Leistungsprinzipien extremer Bergsteiger als Lehrstücke, die sie sich oft und gerne in Vorträgen, die ganz auf ihre Gedankenwelt zugeschnitten sind, zu Gemüte führen lassen. Doch wo Bergsteiger nur sich selbst schädigen mit ihren lebensuntauglichen Vermeidungsstrategien und lediglich Seilkameraden und Angehörige verschleissen, da besteht bei Managern, die in einem psychologischen Krankheitsbild ein Ideal sehen, das fatale Potential ganze Unternehmen mit sich in den Abgrund zu reissen. Glücklicherweise bewegt sich Manfred Ruoss Psychologie des Bergsteigens aber nicht allein in diesen extremen Zonen. Und so ist sein Buch auch für jeden, der einen harmloseren Wandervogel hat, eine erhellende Lektüre. Sich selbst nimmt der Autor dabei nicht aus und streut in seine Untersuchung persönliche Erlebnisse ein, die einem oft sehr bekannt vorkommen. Denn einen Knacks haben wir wohl alle. Aber wenigstens einen mit weiten Tälern und hohen Graten, mit von Sonne durchflutenden Wäldern, geheimnisvollen Zinnen und dunkel schimmernden Nordwänden. Einen Knacks, in dem ewiger Schnee und überwältigende Tagesanbrüche, Mühsal und Kälte und Rausch und Freude liegen. Gipfel warten auf uns. Und wenn wir einmal davon zu erzählen beginnen, hören selbst die Verstocktesten kaum mehr auf. Solches geschieht aber eher auf dem Sonnenbänklein, als auf der Couch des Therapeuten.

18 – James Salter: Solo Faces

Aufstieg in die Hochliteratur

Es beginnt auf den abschüssigen Schindeln eines Kirchturms. Zwei Taglöhner, Rumtreiber mit langen Haaren, teeren das Dach. Unter ihnen, auf dem getrimmten Rasen des Kirchhofs, eine Tafel mit der Predigt zum Sonntag: Sexualität und Gott. Die beiden blicken hinab auf die Ordnung der Menschen, die nur einen kurzen, freien Fall entfernt liegt. Die Sonne verbrennt ihre Gesichter. Sie arbeiten ohne Seil. Sorglos der eine, ... der ausgleitet. Und schon sind wir mitten drin in einem der grossartigsten Bücher über das Bergsteigen. Über ein Leben, das von einem Besitz ergreifen kann, wie nur weniges sonst. Vernon Rands Unterarm ist nicht von der harten Arbeit mit Adern überzogen. Er ist einer der Kletterer aus dem Valley. Während die Füsse seines Partners verzweifelt die Luft treten, sind es seine Nerven, die beide retten. Ein Moment, der so schnell vorbei ist, wie er gekommen war. Ihr Blut pocht noch nach. Schwer und bis zum Hals. Während von unten ein Pastor ruft: «Alles in Ordnung bei Euch?» - die Stimme des wohlmeinenden Unverständnisses. In Solo Faces von James Salter ist weit und breit kein Eiswind, sind keine Schicksalsberge und keine Sieger. Dafür Lakonie und viel Aussenseitertum. In den siebziger Jahren schrieb der grosse, amerikanische Schriftsteller ein Drehbuch für seinen Freund Robert Redford, das er später zu einem Roman ausbaute. Nicht zu seinem besten, aber zu einem der packendsten und wahrhaftigsten Bücher über das Klettern. Über jene, die einen Weg wählen, in dem Bodenhaftung nichts mehr zählt, deren Halt wie die Griffe in den Felswänden mit jedem Mal kleiner wird. Vernon Rand treibt von Kalifornien nach Chamonix und immer weiter hinaus auf dem messerscharfen Grat zwischen Freiheit und Verlorenheit. Eine literarische Figur, die einen noch mit Sehnsucht erfüllt, während man es längst ahnt. James Salter folgt ihr in knappem Ton, die Symbolik ganz in die Handlung gelegt, beinahe distanziert berichtet er von den Vorgängen am Abgrund, als wäre er nicht selbst jahrelang mit diesen Leuten geklettert. Als Schriftsteller interessiert ihn grösseres. Und so beschreibt er Vernon Rand in ergreifend schönen Fluchten, in einer Sprache, die einen das Dunkle einer Nordwand riechen lässt, bleibt aber bei ihm, wenn der Winter einbricht, Rands Zelt als einziges auf dem Campingplatz zurückbleibt und Schnee und Einsamkeit auf ihm lasten. Wenn er sich von Frauen aushalten lässt. Wenn er zum Landstreicher wird und seine Kleidung wirkt, als wäre es die verstorbener Kameraden. Es gibt auch ein Eiger-Drama, aber ein schäbiges und ohne Rand. Er kommt anders zu Ruhm. Paris liebt ihn. Doch dies ist nicht mehr das einfache Leben. Selbst im Blitzlicht sind die Berge mächtige Metapher für die Welt. Aber eben nur die Metapher. Seine wechselnden Beziehungen festigen bloss sein Schicksal. Zurück in den Felsen wird er zur Legende, die fortlebt und sich verselbständigt. Auch sie braucht ihn irgendwann nicht mehr. Am Ende steht für Vernon Rand nicht der Absturz. Das Glück seiner Rivalen hat er nicht. Dafür eine Frau, die ihn fragt:«Du warst mal in Frankreich?» Vernon Rand ist verglüht. Andere würden sagen, er hat mal für etwas gebrannt. Ganz bestimmt hätte ich vor zwanzig Jahren in Solo Faces ein völlig anderes Buch gelesen, hätte eine ganz andere Kolumne dazu geschrieben. Was bleibt ist eine Geschichte, die weit über das Genre hinaus ragt, weil Salter seine Helden nicht nur dem Berg aussetzt, sondern mit dem Leben konfrontiert. Er geht dort weiter, wo reine Bergliteratur kehrtmacht. Und wenn sich diese erschöpft in Biographien, Erlebnisberichten und Historie lohnt sich eine Wiederbegehung im literarischen Hochgebirge. Die Berge sind als Schauplatz einfach zu grandios, um darin nur Geschichtsstunde zu betreiben.

17 – Andreas Teuscher: Schweiz am Meer

Pioniere des Nachstiegs

Wären sie je hinaufgestiegen ohne die Engländer? Hätten die geschäftstüchtigen Säumer je die nutzlosen Gipfel erklommen, die Ruhm brachten, aber vorderhand keinen Gewinn? An den Fähigkeiten hat es sicher nicht gefehlt. Als die englischen Forschungsreisenden die Alpengipfel in Angriff nahmen, waren es Schweizer Hirten und Jäger, die ihnen zu Bergführern wurden. Doch während die bergbesessenen Touristen Jahr um Jahr zurückkehrten, um endlich eine Durchstiegsroute zu finden, zogen es die Ortsansässigen vor, ebendies zu bleiben, ortsansässig. Kam es ihnen nicht in den Sinn, ihre Gipfel selbst zu erkunden? War es ihnen schlicht genug, Sommerfrischler mit panoramareichen Spaziergängen zu beeindrucken? Oder hat sie die sagenhafte Schweizer Bescheidenheit bewogen, dem Herrn Whymper nobel den Vortritt aufs Matterhorn zu lassen, da er sich doch so sehr mühte? All diese Fragen könnten heute Bergführer und Matrosen bei einem Glas Portwein in einer Hafenkneipe am Splügen diskutieren, wenn es nach den Schifffahrtsplänen grosser Ingenieure gegangen wäre. An Pioniergeist hat es sicher nicht gefehlt. Pietro Caminada, in Mailand geborener Sohn eines Schweizers aus Vrin GR, machte sich in Brasilien einen Namen als Ingenieur und Städteplaner, bevor 1907 in Rom Entwürfe präsentierte, wie die Alpen schiffbar zu machen seien. Sein Kanal hätte von Genua nach Mailand geführt, durch den Comersee nach Chiavenna und über den Splügen via Thusis und Chur bis in den Bodensee. Die Fachwelt begeisterte er mit seinen in Amerika patentierten Röhrenkanälen, in denen Frachtschiffe grosse Steigung mühelos überwinden konnten. Mit solchen Ideen war er beileibe kein einsamer Phantast. Er stiess in der Schweiz auf ausgereifte Projektstudien. Ein veritabler Schiffahrts-Hub hätte das kleine Alpenland werden sollen. Mit dem «transhelvetischen Kanal» von der Rhone bis zur Donau und der Schiffbarmachung des Hochrheins von Basel bis zum Bodensee wäre der Schweiz eine zentrale Rolle im europäischen Schiffsverkehr entstanden. Mit Anschluss an die bedeutendsten Meerhäfen. Einzig die Alpenüberquerung war noch ungelöst. Doch die helvetischen Kollegen hiessen Caminadas Megaprojekt mit einem vergifteten Kompliment willkommen. Es sei sehr interessant als «technische Dichtung». Aber halt nicht rentabel. Ein Argument, das auch ihre eigenen Flussträume jahrzehntelang staute. Immer war es das Geld, das nicht recht fliessen wollte. Der Bundesrat beharrte bis in die sechziger Jahre darauf, dass zuerst die Nachbarn ihre Flussläufe schiffbar zu machen hätten. Doch anders als im Alpinismus hat man in der Schweizer Schiffahrt vergeblich auf die Initialzündung von aussen gewartet. Aus der Nachbarschaft kamen lediglich zwei Weltkriege und sorgten für gegenläufige Strömungen. Die Zusammenarbeit versiegte, aber für den nationalen Zusammenhalt nahm die Debatte um Verbindungskanäle wieder Fahrt auf. Vorausdenkende sahen im ausgebauten Wasserstrassennetz gar den kommenden Standortvorteil im aufblühenden Nachkriegseuropa. Es ging eben stets um mehr als das wirtschaftlich Rentable. Mit der imaginierten Binnenschiffahrt sollten nicht nur Güter transportiert werden, sondern auch Einheit, Friede, Vaterlandsliebe - und Schweizer Werte in die Welt hinaus. Nicht zuletzt waren es auch Entwürfe für eine mit Europa verbundene Gesellschaft. Andreas Teuscher schildert uns die Geschichte einer verhinderten Seefahrernation. Er berichtet von ausufernden Kommissionsdebatten, die stets zu einem Nein fanden, sich aber alles offen hielten. Er beschreibt den Kampf des damals rechtsbürgerlichen Heimatschutzes gegen Eingriffe in den helvetischen (Landschafts-)Charakter und verblüfft mit hoffnungsvollen Planskizzen, die bis in die Details ausgearbeitet in den Archiven lagen. Aus seiner Lizentiatsarbeit ist ein kompaktes, angenehm klares Buch entstanden, das mehr über den Zürcher Hafenkran mitteilt, als die Statements von auf einmal Kunstsinnigen. Vor allem dass dieser in einer langen Tradition steht. Nicht in einer maritimen, aber in einer schweizerischen.

16 – Leo Tuor: Cavrein

Killer kapitaler Klischees

Es ist wieder Zeit, mit Leo Tuor auf die Jagd zu gehen. Vor ein paar Jahren hat er mit Settembrini ein selbstbewusstes, leidenschaftliches Buch vorgelegt, dass die Männer, die Jagd, das Töten, die Tradition, das Umherstreifen durch nasses Gras in kalten Morgen, die Stille nach dem Schuss und das Getöse unter ausgekochten Trophäen in einer Widersprüchlichkeit beschreibt, dass ihn jeder Jäger für diesen Verrat an geheimen Gefühlen innig hasst oder liebt, die meisten beides. Die Jäger in Settembrini pirschen sich durch abschüssiges Gelände und die Weltliteratur. Sie verachten die Regeln, aber auch jene, die ihr Metier nicht beherrschen. Belesene Anarchisten im Unterholz, die meinen, zur Jagd sei schon längst alles gesagt worden, und die doch nicht aufhören können, Geschichten zu erzählen. Für dieses Buch ist Leo Tuor zum Jäger geworden, hat die Jagdprüfung abgelegt. Man merkt Settembrini an, dass sein Autor ganz genau wissen will, wovon er schreibt. Und nun ist Cavrein erschienen. Es geht wieder um die Jagd und doch ist alles anders. Settembrini war ein Buch, das alles wollte und alles geschafft hat. Es fasst die Fülle, die Komplexität, die Geschichte und die Gegenwart, den Sinn und die Lächerlichkeit, in der für Tuor typisch fragmentarischen Erzählweise. Im nicht ausgesprochenen noch beredter. Aus assoziativen Nebeln tritt ein präzises Gesamtbild hervor. Doch der Nachfolger Cavrein ist ein Kristall. Klare, konzentrierte Schönheit, linear aufgebaut. Geschrieben im vollen Vertrauen auf die symbolgeladene Beute. Diesmal gehen sie auf die Steinbockjagd. Sie suchen ihr Wappentier zu erlegen, die stolze Männlichkeit mit dem rot eingefärbten Gemächt, oder dem verschrumpelten oder gar keinem, je nach Darstellung. Dieses Tier, dieser Tutanchamun mit dem Riesenhorn, der auf der falschen Seite des Bergs bei den Urnern seine Majestät verliert und am Nasenring geführt wird, ihm steigen sie nach, schleichen über Felsbänder mit dem Gewehr im Rucksack, einem Stück Speck und ihrem Wittgenstein, Dante, Malaparte und Plinius. Bis sie dem Steinbock gegenüberstehen, der ohne mit der Wimper zu zucken in den Lauf seines Mörders blickt. Diesmal lässt Tuor nichts offen. Er formuliert die Warterei aus. Beinahe wie ein Chronist, beschreibt er die Wetterwechsel in den Gemütern und den wilden Hochtälern des Klosters Disentis. Hier lauern sie sich selbst auf, sitzen im zurückgelassenen Gerümpel der Alphütten und schimpfen auf den Kanton, schmucke Jagdaufzüge  und die Hansheinis mit ihrer kapitalen Fixierung. Es passiert lange nichts, dann geht alles sehr schnell. Und dieses herrliche Buch ist vorbei. Nach dem Roman Settembrini ist die Erzählung Cavrein frei und leicht, pointierter, satirischer, doch nicht weniger poetisch. Der neue Übersetzer Claudio Spescha hat wie sein Vorgänger Peter Egloff für das Rätoromanisch von Tuor ein Deutsch gefunden, das man am liebsten laut lesen möchte. Voller Melodik. Die Fussstapfen seien gross gewesen, erzählt er mir am Telefon. Da waren zum einen die grossartigen Übersetzungen der ersten drei Romane, zum anderen ein Autor, der ihm über die Schulter blickt im Wissen, dass er viele Lesungen halten wird, in dieser Sprache, die nicht seine literarische ist. Einiges ist nicht übertragbar - das Gesprochene der Leute, die eingeschlichenen Germanismen - doch was wir durch Claudio Spescha erhalten ist ein Deutsch, in dem das Rätoromanische klingen kann. Auch dank solchen Übersetzern findet Tuors Literatur bis nach Deutschland ein wachsendes Publikum. Ebenfalls viel zu wenig gelobt werden für meinen Geschmack die achtsamen Buchgestalter. Ihr Anteil an der Freude, die eben nur das gedruckte Buch bereiten kann, ist beträchtlich und sollte viel öfter verdammt oder gerühmt werden. Cavrein ist ein Genuss vom ersten Moment an. Es sieht gut aus - klassisch abgesetzt, hier nicht in schwarz, sondern in dezenter Farbe - liegt wunderbar in der Hand und riecht gut. Ich glaube, ich lese es gleich noch einmal.

15 – Susanne Stacher, Christoph Hölz: Dreamland Alps – Utopische Projekte in den Alpen

«Chalet-Verbrecher!» vs. «D'Fuscht uffs Aug!»

Hätten sie nur auf Reinhold Messner gehört:«Keine festen Bauten über 2’400 Meter!» So manche Wortgewalt wäre uns erspart geblieben wenn am Berglertisch die Architekturdebatten losbrechen. Abgrundtief und felsenfest klaffen die Standpunkte auseinander. Empörung für Fortgeschrittene. Als weitere Zündschnur nun dieses Buch voller erblühter und verblühter Visionen: Dreamland Alps. Eine Dokumentation utopischer Bauwerke in den Alpen. Aufreizend bebilderte 120 Seiten, die jeden chalet-bewussten Bergfreund aufheulen lassen. Doch wo die einen versammelt finden, was sie am liebsten mit Titanenfaust in die schwarze Nordwand hinabschleudern würden, sehen andere endlich Ideale gewürdigt, mit denen sie sonst an steinernen Mienen abprallen. Dabei ist Hochgebirgsarchitektur doch von Anbeginn neumodisch und modern. Schliesslich gab es oberhalb der Alphütten und ihren Steilwiesen nie Behausungen, weil kein Mensch dort nimmer hat wohnen wollen. Der Reflex, auch hier den Traditionsbruch zu bejammern, ist so deplatziert wie die Bauten selbst. Bewusst wurden sie ins Offene gestellt. Denn die unberührte Bergwelt war nicht allein für Alpinisten unwiderstehlicher Freiheitsbegriff, ihr mächtiger Weissraum liess auch kompromisszermürbte Architekten freier atmen. Doch überall, wo der Mensch die Chance bekommt, völlig neu anzusetzen, setzt er meist nicht völlig neu an, sondern kommt mit der Altlast seiner Projektionen daher. Es gibt also in diesem freudig frevelhaften Buch obendrein noch all die Sehnsüchte zu bestaunen, die man in der Reinkultur der Berge zu verwirklichen hoffte. Das begann schon im 18. Jahrhundert als im Zuge der Aufklärung die Berge von der Schreckenslandschaft zum Ort des Erhabenen umgedeutet wurden. Auf so eine Idee konnten auch nur die Auswärtigen kommen, und so baute man ihnen künstliche Burgherrenromantik und mit Schnörkel überzogene Villenschlösschen hinauf. Mit dem Baumaterial hatte man die Vorstellung dessen hochgetragen, was den fremden Gästen gefallen könnte. Bald schon wurden diese Chalet-Lügen von kastenförmigen Bauten abgelöst. Das Ideal lag nun in der Reinheit. Der erhabenen Gebirgslandschaft sollte kein architektonischer Zierrat gegenüber gestellt werden und befreite Körper tanzten nackig auf dem Monte Verità. Ironischerweise sind es heute die Naturpuristen, die reduzierte Architektur am vehementesten verdammen. Ganz andere Gedanken verfolgte das faschistische Italien, das in Südtirol Seilbahnstationen in einer Monumentalität projektierte, auf dass eine ganze Bergregion mit Pathos italianisiert würde. Ähnlich absichtsvoll die kreisrunden Turmbauten, die für Jugendlager und ihre Trainings zum gefügigen Körper errichtet wurden. Der offene Hohlraum erlaubte eine 24-stündige Überwachung nach innen. Solchem folgen Abbildungen von herrlich antiquierter Futuristik in Sanatorien und Solarien, die, als hätte man schon immer der heilenden Wirkung der Luft misstraut, auch die Sonnenstrahlung zu intensivieren suchten, mit sich drehenden Gebäuden und wabenähnlichen Fenstern, in denen die Patienten auf Eisenbetten geschnallt, stets im richtigen Winkel zur Sonne liegen sollten. Ein alpiner Frank Lloyd Wright schreitet durch diese Entwürfe. Es gab aber auch Zeiten, in denen es vorbei war mit Gedanken zur Interaktion von Mensch und Natur. Für den winterlichen Massentourismus spiegelte der Mensch sein komplettes Stadtleben in jungfräuliche Bergebenen. Französische Architekten im Brasilia-Rausch. Charmanter anzusehen sind Entwürfe und Bauten, in denen die Bergsehnsucht wieder im Rückzugsraum lag. Der Mensch landet fernab von allem in kapselförmigen, gleissenden und vor allem kleinen Behausungen, die Schutz bieten und Ausblick. Hierzu gesellt sich auch die neue Monte-Rosa-Hütte, die den Wunsch nach autarker Verdichtung in seiner Entsprechung als Kristall beherbergt. Das Buch Dreamland Alps fasziniert, überrascht, lässt erschauern, doch in den hochgelegenen Bauten sind es vor allem die darin manifestierten Träume, die tief blicken lassen.

14 – Annatina Nay: Zu viele Gäste stören die Ruhe des Bades

Ein Bad in den Wolken

Mächtig kommt das Unterland. Wie ein gewaltiger Strom schiesst in den 70er-Jahren das Liquide den Berg hinauf, umspült einen Weiler und macht ein Kurbad wieder flüssig. Für kurze Zeit erlebt das verlassene Hotel Tenigerbad sein verspätetes Wirtschaftswunder. Als Reservoir für überschiessendes deutsches Vermögen. Doch die Steuerflucht mündet in einem gigantischen, enthusiastisch feiernden Leck. Ein sektsprudelndes Finale einer Quelle und ihrem Kurhotel, das einst als stolzer Vorposten der Belle Epoque in der dunkel bewaldeten Wildnis leuchtete. In vielen Bergtälern sind sie zu finden, diese mondänen Häuser in denen man badete, parlierte, Luft atmete und gemeinsam reich war. Doch mit dem ersten Weltkrieg fand diese Freizeitgestaltung für Wohlhabende ein jähes Ende und nach dem zweiten begannen die Bemühungen der Nachkommen, den alpinen Prunkbauten neuen Sinn zu geben. Von einem ganz besonderen dieser Wiederbelebungsversuche lesen und schauen wir in einem herrlich verschlungenen, bildreichen Buch, das der Limmatverlag aus dem Strom der jährlichen Abschlussarbeiten gezogen hat, und das nun in überarbeiteter und ergänzter Form seinen berechtigten Platz fordert in der ernst zu nehmenden Bergbuchbibliothek. Denn in gleich mehrerlei Hinsicht setzt Zu viele. Gäste stören die Ruhe des Bades einen neuen Standard. (Allein schon dieser Titel.) Wo sich die Coffee-Tables biegen vor schwelgerischen Bildbänden über Hotels mit ähnlich verwitternder Grandezza, begegnet dieses Werk seinem Waldhaus mit der Art von Respekt neben dem verklärende Nostalgie nur alt wirkt. Bibliophile finden hier ein ambitioniert gedachtes und gestaltetes Buch wie eine ehrliche letzte Ehre für einen Ort, in dessen Gemäuer soviel Zeitgeist umgeht, dass einem unheimlich wird. Das Tenigerbad war einst Opferstätte, hoffnungsvoller Familienbetrieb, ein Satellit der Belle Epoque, Internierungslager für deutsche Soldaten, Quelle für Medizinalwasser nach Übersee, hätte für Howard Hughes abgebrochen und nach Texas verschifft werden sollen, wurde knapp nicht zum Waffenplatz Sumvitg (einmal mehr griff die Liebe Frau vom Schnee rettend ein), dafür zur Ferienkolonie für Kriegskinder, aber dann doch kein Ort für Asylanten, lieber eine mächtig hin gelogene Zweitwohnungsruine, einmal Alt-Nazitreff, wurde als dunkler Kasten, abgeschossen im hintersten Tal, heimliche Location für erotische Fotoshootings und hatte immer wieder Presse als grandiose Fehlinvestition eines wohlmeinenden Industriellen, der auf den Fotos im Buch sinnig und schön mit Wolken vor dem Kopf erscheint. Eine erstaunliche Karriere für ein Anwesen, das doch die meiste Zeit über leer stand. Dafür jetzt die Fülle im Buch. Auf jeder Seite beginnt eine neue Geschichte, eine neue Wehmut, eine neue Vision, eine neue Hoffnung, eine neue Unmöglichkeit. Ein strenges gestalterisches System hält diesen Fundus der Erinnerungen gekonnt zusammen, es treffen Google-Earth-Bilder auf historische Zeichnungen, Familienalben auf Presseartikel, Speisekarten auf Exkursionskarten, hin und her blätternd und vielen Querverweisen folgend nimmt der Sog dieser spannenden Sammlung zu. Die weit verzweigten Rinnsale verdichten sich zum Erzählfluss. Und unter alledem die Tiefenströmung der Schweizer Tourismusgeschichte. Annatina Nay, die Autorin und Gestalterin, lässt konsequent die Einheimischen zu Wort kommen. Diejenigen, die sich neugierig näherten, die beglückt werden sollten, die zum Personal wurden, das sich mehr und mehr selbst beaufsichtigte, die zuschauen, verdienen, verhindern, schuld sind, plündern, sich kümmern, auch dann noch, wenn die Zukunft längst vorbei ist, die aufräumen und ganz am Ende den Schlüssel abgeben. Legt man diese rätoromanischen und auf deutsch übersetzten Berichte zur Seite wird man wohl nie wieder gedankenverloren vorbei wandern an den eigentümlichen Grossbauten, die dem Berggänger aus vergangenen Zeiten begegnen oder kolossales für kommende Tage versprechen. Doch für die Zukunft des Buches - dieser Art Bücher - besteht kein Zweifel mehr.

13 – Hrsg. Applaus Verlag: Schöne Schweiz Beautiful Switzerland

Im Sog der Postkartenschweiz

Zu den besten Bergtouren gehören jene, auf denen man einfach stehen geblieben ist. Irgendwo zwischen dem Weit-weg, wo man hinwollte und dem Alles, von dem man wegwollte. Plötzlich findet man sich liegengeblieben auf einer Wiese wieder. An einem moosbewachsenen Fels. Auf einer Lichtung, die sich vor allem im Kopf aufgetan hat. Bei der Rückkehr gibt’s von keinem Gipfel zu berichten, man könnte nicht einmal genau sagen, wo man gewesen ist, aber der Blick hat sich dennoch verändert. Vielleicht gerade deshalb weil die neu gewonnene Perspektive keine von oben herab war. Beim hier vorgestellten Buch verhält es sich genauso. Es ist unspektakulär und mitteilsam wie ein Steinmann und wahrlich kein Wälzer. In Minuten hat man es durchgeblättert, genussreich betrachtet – und hätte doch alles verpasst. Man kann es eben nicht durchschreiten, man muss ab und zu in ihm stehenbleiben. Unter dem Titel Schöne Schweiz versammeln sich vierzig historische Plakate aus einer Zeit, als nicht die Überfülle die Werbung beherrschte, sondern Eleganz und Klarheit. Es waren die Schweizerischen Bundesbahnen, die mit ihren waghalsigen Bauten, die selbst schon Sehenswürdigkeiten waren, die Welt verblüfften, um danach mit ihrem Engagement für das Bild der Schweiz im Ausland auch noch Meilensteine in der Kommunikation zu setzen. Es galt wohl den etwas hilflosen Ferienorten mit ihren Werbeerzeugnissen, die heutzutage zurecht vergessen und nur in Publikationen mit hämischen Titeln zu finden sind, eine stilvollere Heimat zu geben. Hierfür lancierten die SBB im Jahre 1903 einen Wettbewerb für alle Schweizer und in der Schweiz wohnhaften Künstler zur Gestaltung von Werbeplakaten. Diese Werke sind Klassiker geworden und beeinflussten die Plakatkunst weltweit. Sie offenbaren auf den ersten Blick die zeitlose Schönheit der Schweizer Berge und Seen und machen Sehnsuchtsorte aus ihnen. Der zweite Blick hingegen lässt einen versinken. Was es in dieser reduzierten Bildwelt aus heutiger Sicht zu entdecken gibt, lässt dieses Bilderbuch zum Schmöker werden. Wer kurz innehält, dem reisst der Gedankenstrom nicht mehr ab. Beim Anblick von Emil Cardinaux’s Matterhorn, leuchtend golden vor lila Hintergrund, die Niederungen in vornehmes Schwarz gesunken, fragt man sich, wieso ist heute das Vertrauen in die ikonische Anziehungskraft der Schweizer Naturmonumente verloren gegangen? Ruft der Berg wirklich nach Hüpfburgen und trümmligen Seilparks? Oder: Im richtigen Strich gezeichnet löst der Mann im Basler Bahnhof Buffet mit seinem Rotwein und aller Zeit der Welt, mehr Fernweh aus, als ein vor Aktivitäten hysterischer TripAdvisor. Sind es nicht Sehnsüchte, die uns an einen Ort ziehen? Zum Beispiel die Südseestimmung am Lago, wenn wir Mario Pescinis Darstellung von Lugano betrachten, durch Palmblätter blickt man auf die erleuchtete Bucht und nein, es ist kein Vulkan, der sich dort erhebt, sondern der Monte San Salvatore. Ist es gelogen, wenn Emil Huber den Zürcher Bellevueplatz so mondän aussehen lässt, als stünde er in einer Reihe mit dem Times Square und der Champs-Elysée? Immerhin, die Details stimmen. Wäre es nicht ehrlicher auch heute wieder auf Tourismusplakate zu schreiben «Für schöne Autofahrten die Schweiz. Verbilligtes Touristenbenzin»? Sieht doch jede Haarnadelkurve in den Schweizer Alpen mehr Motorradfahrer und Classic-Cars, als viele Rallyestrecken Europas. Wieso wurde die Arosa-Schönheit im durchsichtigen, wirklich durchsichtigen Bikini erst Jahrzehnte später in unseren medial durchsexualisierten Zeiten zensiert? Würde das touristische Schweizbild aussagekräftiger, liesse man wieder die Kunst ans Werk anstelle der Marketingexperten? Ein Plakat von Thomas Hirschhorn für die Innerschweiz? Der Gotthard ist schon von HR Giger dargestellt worden und Dieter Meier hat den Rheinfall besungen. Die Gedanken verlieren sich schnell in diesen historischen Plakaten, die sich auch heraus reissen und als kontemplative Postkarte verschicken lassen. Ein Barbar natürlich, der so etwas einem Buch antut. Und doch eine schöne Verbeugung der Buchgestalter vor der Multioptionengesellschaft. 

12 – Unbekannter Autor: Der unbeschriebene Gipfel

Den Riesen ein Lächeln schenken

Gelungen die Komödie, würde er einem nur nicht so leid tun. Der Ueli aus der Schweiz macht sich in den Himalaya auf, um überlegenes Bergsteigen auf die Spitze zu treiben, tut sich dafür mit einem fuckin’ arroganten Italiener zusammen, der’s aber bestimmt nicht so gemeint meint hat, will beim Fixseile verlegen doch nur helfen und löst damit die erste Massenschlägerei auf dem Dach der Welt aus. Gewiss eine besondere Perle der Kuriositäten am unheiligen Berg. Nach dem ersten Einbeinigen, dem ersten Blinden, ersten Achtzigjährigen, ersten Minderjährigen ist ein neues Kapitel aufgeschlagen. Statt Pioniertaten nun Pionierbetätigungen am Everest? Erstes Minigolfturnier auf dem South Col? Erster Fondue-Plausch am Hillary-Step oder erstes Wok-Wett-Rodeln in der Todeszone? Wir wissen, der Phantasie ist den mediengehetzten Berufsbergsteigern keine Grenze gesetzt. Doch für Ueli Steck sollte noch eine spitzere Pointe folgen. Wo die Italiener ihr Grossmaul gewohnheitsmässig als Helden feierten, musste der Schweizer Alpinist hinnehmen, dass sich seine Landsleute nicht mit ihm, sondern mit den Sherpas identifiziert hatten. Was sind Sherpas denn anderes als Walliser Bergführer?! Übergangene Anwohner eines begehrten Berges, die hohe Herren für Geld hinauf helfen. Auch Sherpas müssen die Territorialhoheit an ihrem «Horu» mühsam im internationalen Ansturm behaupten. Schickt den Mannen ein paar Hellebarden! Ueli Steck ist ein aufrichtiger Typ. Dass er alles richtig gemacht hat, dabei ins Mahlwerk einer Kommerzmaschine geraten ist und sich zum Schluss vor den eigenen Leuten auf der falschen Seite wieder findet, das hat Tragik. Und die verleiht jeder guten Komödie ihre Tiefe. So etwas zu erfinden ist nicht einfach. Doch im Buch, das hier vorgestellt werden soll, ist dies meisterhaft gelungen. Mit Gespür für gute Geschichten hat der Autor die schillernden Schichten des Pathos abgetragen und das gewaltige Reservoir an Humor freigelegt, das in heroischer Bergliteratur verborgen liegt. Wir begleiten eine internationale Expedition an einem der zugänglicheren Riesen im Himalaya. Jeff Beanie, kalifornischer Surfer und Gelegenheitskletterer hat sich von seiner Freundin Liz, einer so engagierten wie ehrgeizigen Bergaktivistin, überreden lassen. Doch nun machen ihm nicht nur die Kälte zu schaffen, sondern auch die endlosen Zeltabende mit Alex Ross, dem Expeditionsleiter. Er ist alt und braucht das Geld. Längst finden sich keine Sponsoren mehr, die für seinen Lebensunterhalt und die Whiskeyrechnung aufkommen. Während er sein Leben als unendlichen Diavortrag voran schleppt, verzögern draussen heftige Schneefälle den Aufbau der Lagerkette. Akklimatisationsaufstiege bleiben im Kopfweh stecken und nur die Besuche im Zelt der unterforderten Sherpas mit ihren Raucherwaren helfen Beanie über die Eintönigkeit hinweg. Bis eines Morgens ein Helikopter die tibetischen Gebetsfahnen aufwirbelt und ein norwegisches Kamerateam absetzt mit Ingvild Hakonsen - starblond, Ray-Ban-Brille selbst im Zelt. Die ehemalige Freeskierin braucht unbedingt ein Comeback. Und auf gar keinen Fall eine Pro-Wilderness-Aktivistin. Je höher die beiden Expeditionsgruppen steigen, umso tiefer sinken sie. In den E-Mails an die Angehörigen wird schwadroniert, dass sich die Zeltstangen biegen, und nicht nur die Alphatiere verheddern sich in ihren Hörnern. Das abenteuerliche Kaleidoskop aus Gipfeljägern, Naturfreunden, geschäftstüchtigen Nepalis und alpinen Eskapisten, mit all ihren menschlichen und allzu menschlichen Motiven wird jedoch neu zusammengesetzt, als ein Sturm die Verhältnisse so gründlich umkehrt, wie dies nur am Berg geschehen kann. Gewiss, wo Pathos herrscht, ist das Lächerliche nie weit. Doch der Autor hat das Format, der blossen Satire zu widerstehen. Viel zu gross ist sein Respekt. Sogar wenn er sich mit dem Vorschlaghammer durch den Fundus der gepflegten Bergberichterstattung arbeitet. Ein grosses Buch, das einem Genre den Humor schenkt. Ein Buch leider, das immer noch ungeschrieben und auch diesen Frühling nicht erschienen ist.

11 – Andrea Hungerbühler: Könige der Alpen – zur Kultur des Bergführerberufs

Könige in Steigeisen

Als ob sie nicht genug zu tun hätten, ihre Gäste aus dem Seil zu entwirren, als ob sie nicht genug schleppten an der Verantwortung für Klienten, die ihre Grenzen erleben, aber gern auch überleben möchten. Bergführer buckeln obendrein ein Berufsbild, das Übermenschliches abverlangt. Und ihr Aufstieg zu den Gipfeln des gesellschaftlichen Prestiges war kein gemächlicher. Wie Raketen schossen die Bergführer im Ansehen empor. Von den nichtsnutzigen Dorftrunkenbolden, die ihre Ortskundigkeit versilberten zu Supermännern und Superschweizern von Kraft und Ideal. Als Ingenieure dieses Himmelfahrtskommandos können die geistige Landesverteidigung genannt werden, die Verunsicherung vor dem unaufhaltbaren Fortschritt, die national-patriotische Abgrenzung oder die nachträgliche Aneignung der Gipfelsiege durch englische und andere Ausländer in den Alpen, die doch einem selbst gehörten. Bergführer waren gut zu instrumentalisieren. Die in sie hinein projizierten Ideale hatten abzustrahlen auf die Soldaten, die Arbeiterschaft und den Schweizer überhaupt. Führer sollten Pflichtbewusstsein, Mut, Tatkraft und Bescheidenheit verkörpern, ihre Bergwelt hatte rein, elitär und klar zu sein. In einer Zeit, in der die Städte beginnen, den Charakter zu verderben, das bürgerliche Gesellschaftsbild in Schieflage gerät und die Frauen ihre Rolle nicht mehr spielen wollen, sehen sich viele Männer verwirrt, bedroht, gefordert. Kein Wunder standen sie am Berg. Doch selbst im verklärten Reduit konnten die Männlichkeitsrituale nicht mehr ungestört gepflegt werden. Nach vordringenden Unterländern erkämpften sich auch erste Frauen ihren Platz am Bergführertisch. Es ist ein herrliches Panorama an historisch-soziologischen Themen, das sich im Buch von Andrea Hungerbühler auffaltet. «Könige der Alpen» ist eine akribische Untersuchung zur Kultur eines Berufes, der zwar zum Dienstleistungssektor gehört, doch mit einem Pathos versehen worden ist, dass es in der Realität nur so kracht und rumort. Die Sachlichkeit mit der die Autorin dieser Glorifizierung begegnet wirkt wie ein wohltuendes Gegengift in einem Genre aus Alpenglühen, klarblauen Augen und heroischem Enzian. Dabei geht es nicht um Entmystifizierung. Mit ihrem umfassenden und faktenreichen Porträt ehrt Andrea Hungerbühler die Bergführer, in dem sie sie ernst nimmt und in ein Licht rückt, dessen Spektrum nicht reduziert worden ist. Am spannendsten wird ihre wissenschaftliche Arbeit immer dort, wo präzise analysiert wird, wie die gesellschaftlichen Vorstellungen auf die Bergführer eingewirkt haben. Bilder und Projektionen, die auch heute noch ihr Echo finden. So lesen wir  im zweiten Teil ihres Buches, wie die interviewten Bergführer in der Schilderung ihres Berufslebens wohl unbewusst hin und her mäandern zwischen ihrer erlebten Biographie und den normativen Deutungsmustern. Wie sie gängige Vorstellungen zwar widerlegen, aber ihnen auch gerne entsprechen, wenn sie mal wieder von den Gästen zu ihnen hochgetragen werden. Es ist diese nicht enden wollende Abfolge der inneren Widersprüche, die «Könige der Alpen» zu einem grossen Lesevergnügen machen. Wie in einem Gletscher, der erstarrt in Blöcken und eisblauen Spalten, als unverrückbare Einheit erstrahlt, kracht und splittert und grollt es auch im Innern dieses Buches. Auf dieser Tour wird heilsam gestolpert über den SAC, die Umkehrung von Herr und Diener am Berg, das Marketing-Bewusstsein der «Gondoliere der Alpen», die föderalistischen Strukturen der internationalen Gemeinschaft, Erziehung zur Gastfreundschaft, verräterischer Sprachgebrauch, «des Schweizerlandes Kern und Zier», das böse Unten und das gute Oben, Flucht vom Weiblichen oder Freiheitsmythos und Männerzucht. Es sollte sich gut anseilen, wer seine Klischees über dieses Eisfeld hinüber retten will.

10 – Dominique Potard: Skieurs du ciel

Abkratzen bis ins Tal

Ein Buch, das schon zerfleddert erscheinen sollte, als hätte man es abends mit schweren Oberschenkeln in einer SAC-Hütte aus dem Regal genommen, um beim Génépi noch etwas zum Blättern zu haben: klassische Aufmachung, Schwarzweiss-Aufnahme des Autors auf dem Buchrücken, vornehme Buchgestaltung, beeindruckende Bildredaktion. Und dann geht der Horrorfilm los. Im typischen Sog von Grauen und Faszination kann man nicht hinsehen - und es nicht lassen.  Skieurs du ciel ist kein Buch über himmlische Pulverabfahrten, sondern über das Springen von der Klinge, in Felswände hinab, in enge Eiscouloirs, die aus Skifahren ballistischen Wahnsinn machen. Dominique Potard hat das erste Buch über die fast 80jährige Geschichte des Extrem-Skifahrens vorgelegt mit Texten und vor allem Bildern, die körperliche Reaktionen hervorrufen. Zum Nachfühlen: Man sagt, die erste schwarze Piste vergesse man nie. Dabei blickt man läppischen 30° Neigung entgegen. Extrem Skifahren heisst 45° und ab 50° beginnt die sogenannte No-fall-zone, jeder Sturz Absturz. Oder in den Worten eines Verfallenen: "Ab 60° beginnen die Ellbogen den Schnee zu berühren, ab 65° streifen die Hüften den Abhang und gegen 70° wird man von ihm weggestossen." Die Abfahrtslinien auf den Beweisfotos sehen aus wie willkürliches Kindergekrakel auf Felswänden. Es geschah, dass Kletterer über sich einen Skifahrer ihre Wand haben abfahren sehen müssen. Unglaublich? Auch vom Matterhorn ist schon einer auf Skiern runter. Im gelbrosa Overall und weissen Skischuhen, ein Geck wie aus dem Katalog, aber auf der Kamikazefahrt seines Lebens. Mit extremer Präzision, Unzusammenhängendes mit Sprüngen überwindend hat Jean Marc Boivin gezeigt, was mit Skiern möglich ist, wenn man sie wie Bergsteiger-Utensilien anwendet. «Wo man nicht sein Leben aufs Spiel setzt verliert das Abenteuer seinen Wert. Felsklettern ist für mich nichts als Gymnastik: Russisch Roulette mit Karamelbonbons. Ich ziehe das Extrem-Skifahren vor. Es ist riskanter, weil zufälliger.» Das Buch ist voller Zitate, die man nicht mehr vergisst, weil sie uns in einer Direktheit provozieren, die im Marketing-Alpinismus nicht mehr zumutbar scheint. «Du bist hier, weil Du es wolltest. Du bist in Gefahr. Aber Rückzug ist unmöglich. Du musst reagieren.» «Off-Piste fahren ist wie den Asphalt zu verlassen und barfuss über eine Wiese zu gehen.» «Ich habe aufgehört, weil ich realisiert habe, dass ich noch am Leben bin.» «Extreme Skiing ist ein Lebensweg. Für mich ein Weg, Mann zu werden.» Aber auch:«Für mich sind alle Alpinisten und Autorennfahrer wie Abenteurer, die ihr Leben riskieren, Leute, die in ihrem alltäglichen Leben nicht reüssieren. Auch sie sind Opfer eines Systems, sie sind Gladiatoren. (...) Ich lehne jede mediale Verbreitung ab. Diese Eitelkeit ist beschissen.» Extrem ist auch zu lesen, wie schnell diese Steilwandabkratzer alle Kontroversen des Alpinismus durchgespielt haben. Gleich nachdem sie den Alpinismus auf den Kopf gestellt hatten mit ihren Tal- statt Gipfelsiegen, wurden sie nicht nur von den eigenen Lawinen eingeholt, sondern auch von ihrer Menschlichkeit. Es folgten die Streitereien um Pioniertaten:«Zwei Snowboarder in meiner Wand!», Fair means: «Wo ist das Abenteuer bei einem Helikopter, der einen absetzt? Wo die Erschöpfung, wenn Schweiss durch Kerosin ersetzt wird?» und Definitionshoheit, wann nun ein 8000er, als mit den Skiern abgefahren gilt:«Mit Sauerstoffmaske klingt jeder wie Darth Vader. Skier, wechselt nicht auf die dunkle Seite!». Noch mehr als Geschichtsbuch ist Skieurs du ciel aber eine fabelhafte Typologie von Showmännern, die von den Kameras, die sie riefen, in den Tod getrieben wurden, von kiffenden Skinomaden, geheimnisvollen Extrem-Eremiten oder dem Alpinisten, der wegen Frau und Kind auf Grosses verzichtet, dafür die Verdichtung von allem im Extrem Skiing sucht. Ein Buch wie eine Tour de Force durch die Motive des Alpinismus, das schon auf der ersten Seite mit einem wie Nietzsche beginnt. «Nicht die Höhe: der Abhang ist das Furchtbare! Der Abhang, wo der Blick hinunter stürzt und die Hand hinauf greift. Da schwindelt dem Herzen vor seinem doppelten Willen.»

9 – Charlie Buffet: Pionier am K2 - Jules Jacot Guillarmod Entdecker und Fotograf im Himalaya

Karakorum Highway to Hell

Da ist dieses verschrobene Titelbild. Ein diesig verschleierter Gigant, der K2, die Majestät unter den Killern im Himalaya, keineswegs in voller Pracht, in partieller Unschärfe sogar, davor drei Männer im Gletschergeröll liegend, vom Kopfweh hingeschmettert, einer hält sich die Stirn. Die Expedition, das Siechtum in den stinkenden Stoffzelten, alles ist vorbei. Nicht das beste Bild dieser Pionierfahrt ans obere Ende der Welt. Doch in keiner anderen Aufnahme flirrt das Verderben besser. Wie ein Fluch lastet auf beiden Expeditionen die ihnen unbekannte Höhenkrankheit - und Aleister Crowley.  Aber es gibt auch heitere Aufnahmen. Oscar Eckenstein wie er auf abschüssigem Gletschereis mit Pfeife im Mund seine neuesten Erfindungen vorturnt: Kurzstiel-Pickel und Steigeisen! Der Engländer praktiziert den führerlosen Alpinismus, was ihm «abscheuliche Beziehungen zum Alpenclub» einträgt, aber wohl wenig geniert haben dürfte. Er war unter den ersten, die in den Karakorum vordrangen und schart nun Gleichgesinnte um sich für die Reise zum K2, bis dahin nur indischen Geologen durchs Fernrohr bekannt. Mit dabei Jules Jacot Guillarmod, Schweizer Arzt und Fotograf. Dann das erste Bild von Aleister Crowley, dem grossen Okkultisten und Würdenträger des redlich erworbenen Titels «verruchtester Mensch der Welt». Hier sitzt der Teufel auf einem weissen Pferd, apart in farbige Decken gehüllt. Übelgelaunt blickt er um sich, die Malaria im Leib. Ausgerechnet der renitente Poet und Drogenfreak wird Zeltpartner des Schweizer Expeditionsarztes. Das grosse Tier 666 ist er zwar noch nicht, doch gemäss Guillarmods Tagebuchnotizen menschlich und hygienisch schon ein richtiger Sauhund. Dass er den Arzt beinahe täglich im Schach schlägt hilft auch nicht. Sie werden nicht gemeinsam auf dem K2 stehen, und schon gar nicht Jahre später auf dem Kangchenjunga, von dem Crowley nach dem tödlichen Unglück eines Bergsteigers als quasi-krimineller Expeditionsleiter endgültig in die Hölle seiner Opiate absteigen sollte. Guillarmods Wut auf «diese Pest» hätte nicht grösser sein können - aber sollen. Denn schon bald zerschellt sein um Wissenschaftlichkeit bemühtes Vermächtnis an der rasenden Egomanie und Fabulierlust des britischen Exzentrikers. Das erstaunt nicht, seine Tagebücher füllt Guillamord wie ein besserer Aktuar. Doch bringt er Photographien mit nachhause, die an Faszination und Exotik in nichts dem dunklen Poeten nachstehen. Obwohl er als Laternenbildvortragender in den Salons der Belle Epoque Erfolge feierte, setzten sich Crowleys Phantastereien durch. Erst heute hat Charlie Buffet die 12'000 Glasplatten aus der Dunkelheit geholt und zu einem Fotoband editiert, der mit pointierten Texten die Ereignisse der beiden Expeditionen neu erzählt und richtigstellt. Sie werden zur Geschichte zweier Männer, die in grosser Hassfreundschaft verbunden waren, als Sonderlinge im damaligen nationalistisch geprägten Alpinismus: der Schweizer und der Satanist. Im Nachhinein betrachtet sind Guillarmods Bilder von erdrückender Symbolik aber auch voll monumentaler Freude am Aufbruch und den Bergen. Es gibt dieses Gruppenbild vom Lager VI kurz vor dem Unglück am Kangchenjunga, das einzige übrigens auf dem Crowley dabei ist, Guillarmod hatte sich auf der zweiten Expedition geweigert ihn zu fotografieren. Das Lager scheint zu schwanken zwischen den beiden Abgründen des Schneegrats, Fetzen flattern von den Zelten und den Bergsteigern. Lässig hängen sie in der Todeszone wie eine von Fellini inszenierte Bande alpiner Piraten. Der einzige, der in die Kamera blickt, trägt eine gespenstische Gesichtsmaske. Oder dann das unschlagbare Porträt von Crowley in Schwefel badend. Oder die erste jemals aufgenommene Fotografie des K2. Leider nicht im Mondlicht aufgenommen, findet Guillarmod. Oder die beiden Kuhlen im Gletscher, Schlafsackabdrücke der Männer, die hier langsam einsanken als ob in ihr Grab. Oder die Bergsteiger am nassen Schlund eines Wasserfalls namens «Teufels Küche», Crowleys Kletterfelsen im schottischen Hochland. Was nur hat Guillarmod hierher getrieben, um dem unerträglichen Klaus Kinski seiner ersten Expedition, die Leitung seiner nächsten zuzusichern? Ein Bildband, der in seiner Grossartigkeit nicht zu fassen ist. 

8 – Nicola Reiter: Firn - Aufzeichnungen am Gletscher

Aus der Enge der Berge

Wer entflohen ist, der wird hier eingeholt. Von allem und allen. SAC-Hütten sind für viele der Gipfel im Bergerlebnis. Für andere der scharfzahnige Felskamin, durch den man sich zwängen muss, auf dem Weg zum ersehnten Panorama. In den Stuben der Schutzhütten verdichtet sich allabendlich die alpine Welt. Hier stossen sie aufeinander, das hightechverliebte Transa-Publikum auf die RS-Nostalgiker, die Kratzwolldeckenfetischisten auf die Seidenschlafsackverwender, die Gebirgsathleten auf die Hosenträgerschwergewichte, die Wandervögel auf die Schluckspechte, die Kachelofenkuschler auf die Stinksockenaufhänger, die Hochleistungsbesserwisser auf die Jägerlateiner, die Horrorgeschichtenrauner auf die Rega-Kandidaten, die Survival-Apostel auf die Kartoffelstock-Seeli, die Abendrotschwelger auf die Handynetzsucher, die Deosprayer auf die Fensteraufreisser, die Piepshandys auf die Dezibelschnarcher, die Tabakschnupfer auf die Graskrümler, die Klettergurtklingler auf die Steigeisenverhedderer, die Bergführer auf andere Bergführer - und alle treffen Sie auf den Hüttenwirt, den König dieses Bergreichs. Er bestimmt, ob man hier oben einen Kasernenhof antrifft, oder das heimelige Ofenbänkli. Ob es aus dem Backofen duftet, oder aus den Skischuhen. Ob die Stube mit Bergfotografien verziert ist oder mit handgeschriebenen Befehlszetteln. Es gibt Hütten, in die kehrt man immer wieder zurück, andere verlässt man mit einem Gefühl der Dankbarkeit selbst im rauen Gegenwind der dunkelsten Stunden vor Sonnenaufgang. Aber was ist mit denen, die zurückbleiben, deren Bergwelt, die Enge ist und der Spültrog, die Abend für Abend die rotglühenden Felszacken durch die beschlagenen Scheiben ihrer Grossküche betrachten oder auf kleinen Feuern Suppen für die Sonnenverbrannten, Durchgefrorenen, Dankbaren bereiten? Was für ein Leben ist das, geduckt in niedrigen Räumen zwischen freiwilligen Putzhilfen und Helikopterpiloten? Nachzulesen ist solches in launigen Anekdotensammlungen, die ihren Unterhaltungswert erst nach dem Genuss von mehreren Zwetschgenlutz zu entfalten vermögen. Eine ganz andere Lektüre erwartet uns dagegen in der Neuerscheinung «Firn» von Nicola Reiter, einem Journal, das mit jeder Seite fesselnder wird. In formaler Strenge notiert die Autorin ihre zwei Monate als Gehilfin in einer nicht näher bezeichneten SAC-Hütte. Sie hat eine schlechte Saison erwischt. Zäher Nebel legt sich über den Berg und seine beiden ständigen Bewohner. Die vielen Tage ohne Gäste geraten zur Laborsituation für den Lagerkoller. Der Hüttenwirt im Muskelshirt, selbstsicher nur in der pedantischen Abfolge seiner gewohnten Arbeitsabläufe, versinkt in einen Winterschlaf vor dem Fernseher. Die Gehilfin lehnt sich mit Ritualen gegen das Nichts der Tage auf. Die tägliche Fotografie trotz allem. Die Notiz zum Wetter, zur spärlichen Zahl der Gäste. Das Kneten des Brotteigs und die Fluchten in die felsenfeindliche Umgebung aus Steinschlag und rumpelndem Gletscher. Abends stummes Kartenspiel, morgens nervendes Gepfeife auf der Schwelle zum Mordmotiv - doch auch auf diese Weise kommen sich die beiden Insassen nicht näher. Bald schon zählt das Journal nicht mehr die verbrachten, sondern die noch verleibenden Tage. Ab hier scheint dem Leser alles möglich. Vorahnungen aus polaren Expeditionsberichten überkommen einen, dunkle Sagen wehen aus der Erinnerung herauf, doch nichts von alledem geschieht. Heimlich verbrennen die beiden Müll an einer verborgenen Stelle und kehren schweigend zur Hütte zurück. In «Firn» spitzt sich kein Ereignis zu, sondern die Spannung. Bis zum beinah unerträglich konsequenten Schluss mit den lückenlosen Listen des Inhalts einer jeden Schublade der Hütte. Das Journal wird zum Abgrund. Die Autorin folgt ihrem strengen Konzept bis zum Ende und bannt eine beklemmende Atmosphäre, ohne dabei den Humor oder den Respekt zu verlieren. «Firn» ist keine nachträgliche Abrechnung geworden, sondern faszinierend unheilvolle Literatur. Vieles hätte geschehen können in diesem Sommer, passiert ist dieses grosse kleine Buch.

7 – Christian Kracht/Eckhart Nickel: Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal

Ein Shanti von oben herab

Der Everest hatte dieses Jahr wieder einiges an schlechter Presse. Christian Kracht auch. Warum bloss, fragt sich der feingeistige Bergsteiger? Die Schweiz ist nicht das Land der Berge. Sie ist ein Land inmitten kleiner, aber sehr schmucker Berge, die bedeutsam waren als der Alpinismus über die Gletscher laufen lernte. Doch selbst ihre furchterregenden Nordwände waren nach und nach bezwungen und der Blick wandte sich ab auf die Giganten Asiens und Südamerikas. Was blieb waren das Erbe eines einst mondänen englischen Tourismus, das Heidi und geschicktes Marketing. Oder in den Worten des russischen Zeltkameraden:«Switzerland nice! Small country, small mountains!» Das schmerzt natürlich. Man kann da gutschweizerisch beleidigt sein - oder herausgefordert. Letztere treffen sich in Kathmandu, wo Tausende Bergsteiger in der Vor- oder Nachmonsunzeit ankommen und ihren klirrenden Rucksack in den Staub werfen. Hochtrainierte Leute, mit scharf geschliffenen Steigeisen, vorbereitet, ihre Zelte in den Schnee zu graben. Sie finden sich hier in betäubender Hitze wieder, fröhlichem Gewusel, Flip Flops und schweren Schwaden dickstem Haschischs. Mit solcher Schlüsselstelle ringend besichtigen sie unruhig die Tempel und schreiten Stupas ab, während die Formalitäten zur Weiterreise ihren Weg durch viele Hände und kleine Zettel suchen. Das ist nicht der Moment, die Nerven mit einem Kulturführer noch weiter zu reizen. Trotzdem hier eine Empfehlung im Angedenken der Stunden im Transit-Airport Bangkok: Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal von Christian Kracht und Eckhart Nickel. Mit der Pointe, die so subtil gesetzt ist, dass man sie beim Aufschlagen schon überblättert hat - dieser Titel! Ausgerechnet die ehemaligen Pop-Literaten und Deutschland-Dandys sollen sich von ihrer Dachterrasse und den Drinks des Hotels Sugat wegbewegt haben, um sich im kleinteiligen Recherche-Nirwana zu verlieren? Haben sie natürlich nicht. Zwei Jahre lang lebten die beiden in dem kleinen Hotel an der ehemals berüchtigten Freak Street und produzierten in ihren, mit weissem Bootslack gestrichenen Redaktionsräumen das Literaturmagazin Der Freund. Die Erlebnisse aus dieser Zeit ergeben keinen Reiseführer, aber ein Abbild der Wechselwirkung westlicher und nepalesischer Kultur, die nicht erst mit dem Hippie-Schlachtruf «Christmas 66 in Kathmandu!» beginnt. Dies gelingt schon deshalb so gut, weil die Autoren seit ihren Anfängen unter dem Generalverdacht der Eitelkeit und des Elitarismus schreiben und noch in den entlegensten Orten der Welt über sich selbst und die eigene Kultur berichten. Doch - und hier hebt sich die windzerzauste Augenbraue des literarisch affinen  Bergsteigers - sind das nicht die bekannten Vorwürfe aus der Bergliteratur, die Begleitmusik zu jedem alpinen Grenzerfahrungsbericht: Subjektive Darstellung der Ereignisse, Ego statt Ethno, Selbstdarstellung statt Auseinandersetzung? Klar sind sie das, doch im Gegensatz zur Reiseliteratur ist es bei Himalaya-Biographien geradezu Tugend, die Reise als Weg zu sich selbst zu beschwören. Was den einen Frevel, ist den anderen Erkenntnis. Und so lesen wir höchst unterhaltsam vom Pink-Floyd-geschädigten Bettel-Brahmanen aus Konstanz oder vom gescheiterten Versuch der nepalesischen Herman-Hesse-Gesellschaft, das Goethe-Institut abzuzocken und dem folgenden Saufgelage mit Botschaftern und Presse in den Redaktionsräumen von Kracht und Nickel. Auch erfahren wir wie der Jazz-Gitarrist Barney Kessel auf königlichen Geheiss etwas Bepop ins nepalesische «New Orleans» bringt. Weiter kommen vor: die Dekonstruktion eines Putsches, die schwarzen Lederjacken der Bodyguards einer Buddha-Inkarnation, die Teestunde mit Prachanda, dem Premier der Maoisten und souverän beiläufig dann doch noch die kenntnissreichen Geschichtsdetails und Alltagsbeschreibungen Nepals. Die beiden sind schliesslich Profis. Warum also immer diese mediale Schelte? Statt sich jeden Frühling über die Zustände am Everest zu empören, könnte man sich einen Abend lang dem Wahnsinn in der Hörnlihütte am Matterhorn aussetzen, dieser Swiss Miniature. Oder besser noch das Everest Base Camp entspannt als Schaustück der eigenen Leistungs- und Selbstverwirklichungskultur betrachten - unter dem Brennglas der achttausendachthundertachtundvierzigfach verstärkten Höhensonne.

6 – Leo Tuor: Giacumbert Nau

Naturschutzgebiet für einen Anarchisten

Ein zorniger Mungg ist er, der den Hirt macht, oben auf der Greina, aber in Wahrheit ist es ist die Wildnis, die ihn hütet, den Giacumbert Nau, den ausgewilderten, der das Fell seiner Hündin krault, die als einzige nicht von ihm weicht, seine Diabola.  Er lebt in den Rissen seiner Vergangenheit. Und verschwindet darin. Dafür taucht viel Dunkles auf aus den Nebeln der Greina auf und in den Erinnerungen des Umherstreifenden. Giacumbert Nau ist ein Typ, den man nicht vergisst. Zu sehr muss man ihn sich selbst zusammenreimen. Im Unerzählten entwickelt Leo Tuor einen unwiderstehlichen Sog. Das war 1988 so und wirkt noch heute; in der Berggeschichte, die nicht zum Heimatroman taugt, oder wie die NZZ damals schrieb, im «Hirtenroman ohne Idylle». Die Neuauflage des vergriffenen Erstlings ist eine spannende Wiederbegegnung. Das Literarische hat die politische Aktualität überdauert, aus einem Wurf ist ein Klassiker geworden. Im Nachhinein lässt er sich nun als erster Teil einer Trilogie lesen von Wildnis, Herkunft und Töten.
Wie ein Gewitter kracht und blitzt es in Tuors erstem Roman, Nebelbänke schieben sich im entscheidenden Moment vor das Geschehen, unwirkliche Lichtstrahlen lassen die Kargheit für kurze Momente erglühen, bevor anhaltender Regen wie ein Vorhang fällt. Hierin lebt Giacumbert Nau, der windschiefe Kerl mit dem aufrechten Furor in sich. Seine Geschichte nähert sich uns in Fragmenten. Im Dorf erhängt sich der Pfarrer an der eigenen Stola, ein Widder verliert sich liebestoll in den Felsen. Albertina heiratet einen anderen, und doch schmeckt Giacumbert den bitteren Salzgeschmack ihrer Haut, füllt sich sein Munggenloch mit dem dunkelgelben Safranduft ihrer Liebe. Souverän arbeitet Tuor mit den Urmotiven seines Genres: Wildnis und Fortschritt, Sesshafte und Hirten, stolzes Aussenseitertum und Einsamkeit, die Unerbittlichkeit der Natur und der Liebe. Doch dazwischen liegen Abgründe, die der Autor nicht schliesst und damit den für Berggeschichten mächtigsten Archetypus baut: das Geheimnis, das sich niemals klärt. Den Raum, aus dem früher die Sagen herabstiegen. Je genauer er die wenigen Begebenheiten einfängt, umso grösser wird das Ahnungsvolle, das dieses Buch trägt. Ein Buch, das auch ein Song sein könnte. Nicht allein wegen des Rätoromanischen, das niemals nur spricht, sondern klingt, zischt und rauscht. Dann wäre «Giacumbert Nau» trotz Tuors kongenialen Übersetzer Peter Egloff in der deutschen Sprache verloren. Die Erzählweise selbst ist stark rhythmisiert, fliesst in grossen Bögen, bricht jäh ab, verliert sich im Ungefähren, wo diese ganz bestimmte Stimmung entsteht der Einsamkeit, des Trotzes, der Berge. Tuor selbst war einst der Hirt auf der Greina. Siebzehn Sommer hat er dort oben gearbeitet und weiss, was die Abgeschiedenheit mit einem machen kann. Seine Figur Giacumbert verliert sich. Vielleicht ist er heute der Halbnackte, der durch das Val Grande irrt, ab und zu von Wanderern gesichtet. Sein Schöpfer jedenfalls ist nach diesen vielen Sommern ein Schriftsteller geworden. Einer, dem es nicht um eine neue Geschichte geht, sondern um das richtige Erzählen einer sehr alten. Wohl herrscht in der Bergliteratur kein Mangel an packenden Büchern von Männern, die aus der Einsamkeit zurückgekehrt sind, dort mit sich und der Wildnis gerungen und vielleicht Abenteuerlicheres erlebt haben, als die Greina zu bieten hat. Ihre Berichte leben von schonungsloser Beschreibung. Selten aber sind die Rückkehrer Literaten geworden, die in der Lage sind, das Unbeschreibliche an uns heranzutragen. In Leo Tuors Roman erlebt es sich wieder, wie viel näher als die reine Authentizität die Literatur den letzten Dingen zu kommen vermag.

5 – Stephan Harvey /Hansueli Rhyner /Jürg Schweizer: Lawinenkunde

Glitzernder Beton

Die glitzernde Pracht, dieser Pulverschnee, der beinahe duftet, der weite unverspurte Hang -  nun liegt er auf mir als eiskalter Beton. Kann meine Lungen kaum heben. Tut weh, aber es geht. Wo ist oben? Mir ist schlecht. Jetzt nicht Kotzen. In einer Lawine zu sterben wird schrecklich. Noch schlimmer, wenn man in seinen letzten Minuten denkt: ich sterbe als Idiot.

Jedes Jahr wird in den Alpen in die immer gleichen Fallen gewedelt. Das komplexe Zusammenspiel von Wind, Temperatur, Schneebeschaffenheit, Hanglage und Exposition ist ein raffinierter Mörder. Am meisten gestorben wird jedoch in den Standardsituationen. Wer sie meidet, reduziert sein Risiko auf die Gefährlichkeit des Strassenverkehrs. Oh sonnige Verlockung, bei Rot in die vielspurige Kreuzung zu fahren!

Keine Schmerzen: Schock oder Glück. Das war kein Rutschen, der Hang ist auf mich herabgestürzt. Gottseidank, ich bin nicht geknebelt. Schnee bis in den Rachen, und es bleiben einem ein paar Minuten. Bringe meine Mütze nicht über die Augen. Kann nicht einmal einen Finger bewegen. NICHT EINMAL EINEN FINGER! Nicht husten. Vor mir im Dunkelblau ein Loch. Bis es von meinem Atem vereist ist, kriege ich Luft. Ich muss pissen.

In den 50er Jahren die Trendwende. Die Ursachen spontaner Lawinenabgänge auf Siedlungen und Verkehrswege waren weitgehend bekannt. Die Opferzahlen rückläufig dank Lawinenverbauungen, Aufforstung und rechtzeitiger Evakuierungen. Auf tödlicher Überholspur hingegen: die Berggänger auf Skiern. Noch heute lösen 95% aller Opfer ihr Schneebrett selbst aus.

Die Zeit ist stehengeblieben. Die andern? Eine Frau, die sich in die Hosen gemacht hatte, wurde vom Lawinenhund als erste gefunden. Die Rettung braucht eine Dreiviertelstunde nur schon bis sie hier ist. Blutgeschmack im Mund.

Gegen die Unberechenbarkeit der Berge lehnte sich die Wissenschaft mit aller Macht auf. Schneeprofile wurden erstellt, Rutschkeile gesägt, Kristalle akribisch untersucht. Nur um wieder und wieder verschüttet zu werden. In den 90er Jahren dann der entscheidende Paradigmenwechsel: Werner Munter ersetzt analytische Lawinenkunde durch Risikomanagement.

Paul hatte einen Airbag an. Vielleicht liegt er an der Oberfläche - aber mit verdrehten Gliedern und vom Felsen gebrochenem Rücken. Vielleicht sucht er schon. Ich höre - nur mich selber.

Seine 3x3-Methode gaukle falsche Sicherheit vor, Berechenbarkeit gäbe es nicht, riefen jene, die genau dies jahrelang versucht hatten. Die Reduktionsmethode bricht das hochkomplexe Schneegefüge auf wenige Entscheidungen herunter. Selbst Unerfahrenen ermöglicht sie, in der Planung und im Gelände ihr Risiko einzuschätzen. Der Geniestreich Munters: sein Lebenswerk passt auf einen Bierdeckel. Der Ketzer gilt heute als Papst.

Im Mittelalter haben sie Menschen lebendig begraben. Ich. Will. So. Nicht. Sterben. Das bisschen Sauerstoff. Am besten wäre es zu schlafen. So geht erfrieren. Man schläft ein und wacht nicht wieder auf. Mir ist kalt. Aber auf eine andere Art.

Die Schweizer Lawinenforschung ist weltweit führend. Und unermüdlich. Obwohl heute rund sechsmal so viele Menschen in den Winteralpen unterwegs sind, hat sich hierzulande die Zahl der Lawinenopfer lediglich verdoppelt. Im Durchschnitt etwa 25 Personen pro Jahr. So viele sterben in den Bergen jährlich auch an Herzversagen.

Schritte. Sie laufen über meinen Kopf. Sollen Sie mir doch mit der Sonde ein Auge ausstechen. Ich muss hier raus. Schnell!

Wer Letzteres vorzieht, der lese «Lawinenkunde», das soeben erschienene Instant-Standardwerk, das die neuesten Forschungsergebnisse verdichtet und die weiter entwickelten Reduktionsmethoden leicht verständlich aufbereitet. Die Zusammenfassung des aktuellen Wissens. Ein Buch für Profis. Ein Muss für Einsteiger. Kompakte Theorie, Praxiswissen zu Gefahren, Risiken und Strategien im Schneehang. Ein Kompendium des Überlebens.

Langsam atmen. Gegen die Panik atmen.

Eine halbe Stunde später sind über die Hälfte der Verschütteten tot. Eine intakte Chance auf Rettung besteht nur während der ersten 15 Minuten. Genauso lange dauert es, das erste Kapitel Basics zu lesen. Schon dieses Wissen genügte, um den klassischen Lawinenfallen zu entgehen. Und damit 80% aller Unfallursachen.

4 – Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen, die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten

Gipfel der Münchhausiaden

«...und immer diese Schmerzen! Wenn wir erst unsere Lungen zu Reibeisen keuchen und der Eissturm sich in unseren Gesichtern festbeisst, wenn er am Rucksack zerrt und mit Millionen Nadeln selbst eisernsten Willen zu durchlöchern sucht – auf diesem geisterhaften Gletscher mit seinen Spaltenmündern, die einem in diesen Stunden der Schrecken wie einladende Kuhlen vorkommen, in die man sich am liebsten hineinlegte und alles wäre gut. Vorbei. Der Strapazen schneeweiches Ende.» Aufreizend harmlos klickerten die Eiswürfel im Whiskeyglas. Aus der schwülwarmen Nacht Kathmandus erschien ein Kellner mit weissen Handschuhen, schritt über den von Fackeln gesäumten Weg durch den Garten des Hotels Shangri-La und reichte eine Zigarrenkiste. Starker Tobak hing in der Luft. «Ihr ahnt nicht, wie sehr ich mir wünsche, wir hätten es schon hinter uns.» So ging sie damals los, meine erste Expedition. Ich war drauf und dran, die Bergausrüstung gegen eine Enfield einzutauschen, den drohenden Himalajahorror gegen ein indisches Motorradvergnügen. Doch dann fiel mir ein zerlesenes, auf rosa Klopapier gedrucktes Buch in die Hände, das in Nepal in jedem gutsortierten Strassenbüdchen aufliegt: The Ascent of Rum Doodle von W.E. Bowman, die heilsame Parodie auf den martialischen Nimbus, mit dem sich die weniger berühmten Bergsteiger gerne umgeben. Der ehrwürdige British Alpine Club als exzentrischer Haufen von Schildbürgern, die in Yogistan einen 12'000er ganz ohne ihren Scout besteigen müssen, da dieser sich unablässig mit der Nachhut verirrt, und die sich vornehmlich durch die schlechte Küche im Basislager zum Gipfelsturm gedrängt sehen. An sich wäre die alpine Literatur eine permanente Einladung zur Persiflage, wird sie doch nicht selten von Helden geschrieben, die am Schreibtisch etwas über sich hinauswachsen. Auf derartige Selbstdarstellung folgt stantepede die Gegendarstellung (erboster Seilpartner), die wiederum sofortiger Richtigstellung (übergangene Zeltkameraden) bedarf. Solche Triptycha sind eigentliche Klassiker des Genres. Berühmtestes Beispiel «Into Thin Air». Wie man aus dem grossen Everest-Unglück von 1996 einen Bestseller macht, wusste Jon Krakauer so gut, dass er eine ganze Lawine von Gegenpublikationen auslöste. Die Opfer seiner Dramaturgie schrieben im Namen der Opfer am Berg ein Buch nach dem anderen, um der Wahrheit aus der Gletscherspalte zu helfen – vor allem natürlich der eigenen. Dass Propheten und Religionsstifter ausgerechnet vom Berge zurückkehrten, um von der Wahrheit zu künden, wirkt heute wie ein Stilbruch. Es scheint eher, als seien die Berge nicht Orte der Klarheit, sondern eine gigantische Nebelmaschine. Wohl auch deshalb tritt aus ihnen zuweilen grosse Literatur hervor. Was wäre uns entgangen, hätten den Fextaler Bergführer Klucker die Schilderungen seines russischen Gastes nicht dermassen in Rage versetzt, dass er sich förmlich gezwungen sah, den Pickel mit der Feder zu tauschen, um ihn, nun gar nicht mehr wortkarg, mit einer kompletten Autobiographie hinwegzufegen? Sein von Emil Zopfi neu aufgelegtes Vermächtnis war 2010 die grosse Entdeckung in der Schweizer Bergliteratur. Ein Platz, der 2011 Daniel Anker gebührt: Ihm verdanken wir, dass die fabulösen Abenteuer von «Tartarin in den Alpen» wieder greifbar sind. Der an Charme und Leibesfülle gewichtige Präsident des Alpenclubs einer südfranzösischen Hügelkette bricht in die Schweiz auf, um dort Grosses zu besteigen und solcherart einen infamen Angriff auf seinen Vorsitz zu vereiteln. Behängt mit klirrender Ausrüstung schnauft er auf die Rigi, muss erfahren, dass sein hochverehrter Tell nur eine Sage ist und die Schweiz ein von Juni bis Oktober geöffneter Kursaal, betrieben von einer «Compagnie» mit Sitz in London und Genf. Weiter durchleidet er eine Liebesgeschichte mit einer russischen Revolutionärin, die Besteigung der Jungfrau und ein richtiges kleines Bergdrama am Montblanc, bevor er in seine lavendelduftende Provence zurückkehren darf. Ein Lesehöchstvergnügen, das Alphonse Daudet im Jahre 1882 vorlegte und das wir mit viel Witz illustriert neu geniessen können. Auch dank der Einführung von Daniel Anker. Kenntnisreich spannend deckt er die historischen Seitenhiebe auf, schafft Aktualitätsbezüge und weist auf die Fülle von Alpingeschichte hin, inmitten dieser sich überschlagenden Lügenabenteuer. Schade, dass der herrlichen Satire so wenig literarische Nachsteiger folgten. Humoristisch gäbe es noch einige Gipfel zu holen.

3 – Michael Kropac/Daniel Silbernagel: Jura keep wild! climbs

Zurück in die Zukunft des Kletterns

Schon immer war Bergsteigen auch eine Flucht. Dorthin, wo es keine Regeln mehr gibt, wo einem nur die eigenen Fähigkeiten bleiben, der Wagemut – und das Talent, am Leben zu bleiben. Aber das war nicht immer so. Die Leute flohen auch schon vor der erdrückenden Kirchenmoral, vor autoritären Vätern oder in den 80ern vor einer zubetonierten Gesellschaft, in der kein Platz für Jugend war. Nicht alle gingen damals auf die Strasse. Einige stiegen in die Felsen - wo sie abseits aller Pfade - die Alpen in ihrem eigenen Stil ausmassen. Nicht aus SAC-Hütten brachen sie auf, sondern aus besetzten Häusern. In ihrer neonfarbigen, eng anliegenden Kleidung, die schon optisch Distanz schuf zum rotbestrumpften Alpen-Establishement, sahen sie aus wie Akrobaten. Und das waren sie auch. Es war die Pionierzeit der modernen Sportkletterei. Auf Gipfel pfiffen sie. Berge besteigen galt nichts in ihrer Welt. Es ging um die Routen an sich. Die gemeisterten Schwierigkeitsgrade schnellten empor wie nie zuvor in der Klettergeschichte. Was jahrelang als extrem gegolten hatte, war nun Einstiegsritual in die Szene. «Motörhead» heissen ihre Klassiker, nicht «Blüemlisalp». Verschont blieben sie trotzdem nicht: Auch sie sind von der Gesellschaft eingeholt worden, von den Hausmeistern und ihren Regeln, den Medien, den Geschäftemachern und ihren Konsumenten. 30 Jahre und viele tausend Bohrhaken später ist der Stein mancher Kletterroute so blankpoliert wie die Treppenstufen des Schiefen Turms von Pisa und legendäre Wände sind – zum Entsetzen vieler – mit neuen Sicherungen dermassen entschärft, dass von den riskanten Adrenalinkunstwerken der Erschliesser kaum noch etwas übrig geblieben ist. Auch die Debatte über den Umgang  mit den paar Krümeln Wildnis in der Schweiz hatte sie nun eingeholt. Zugänglichkeitswahn vs. Grenzerfahrung. Nun könnte man meinen, dass die Kletterer eine Nische in der Nische darstellen, dass der Schweizer Teil der Alpen, die am intensivsten genutzte Bergregion der Welt, wahrlich grössere Probleme kennt, als ein Zuviel an Felshäkchen: Höhen-Eventitis, Heli-Skiing, die Flutung von Hochebenen etc. Zumal auch bei uns die ungezähmte Wildnis findet, wer Prestigeträchtiges meidet, die spannenden 3000er den populären 4000ern vorzieht, und sich an Klettergebiete hält, die mindestens zwei Stunden vom nächsten Parkplatz entfernt liegen. Auch heute noch ist der Mainstream beruhigend phantasielos und faul. Weshalb sich dann mit dieser Randnotiz der Berggeschichte aufhalten? Weil die Felskletterer schon immer Vordenker des Alpinismus waren. Nirgends kommt man sich selbst und dem Berg näher. Physisch wie psychisch. Bereits wenige Meter nachdem man sicheren Boden unter den Füssen verloren hat, macht man sich keine Gedanken mehr über die eigene Moral, man erlebt sie. Fast alle einflussreichen Bergsteiger stammen aus der  Kletterszene, sie ist ein Labor für kommende Entwicklungen am Berg. Es lohnt sich also, auch ein Auge auf den neuesten Sturm im Wasserglas zu werfen. Der da wäre: Jura keep wild! climbs. Ein sachlich zurückhaltender Kletterführer in die Kunst ohne Bohrhaken und fix eingerichtete Hilfsmittel. Der Kletterer setzt seine Sicherungen selbst - und nimmt sie auch wieder mit. Breitensport, adieu. Gefühlte Erstbegehungen bei jedem Mal. «Clean Climbing» heisst diese als elitär verschriene Herausforderung, die zurzeit viel Magnesia aufwirbelt in den Kletterhallen und Blogs. Ohne aufdringlich zu propagieren beschreiben Michael Kropac und Daniel Silbernagel das erforderliche Material und geeignete Anfängerrouten im nahegelegenen Jura. Einfach und klar, der Rest liegt an uns. Ihre Wände lassen sich nicht entlang eingebohrter Haken konsumieren. Jeder Kletterer muss den Fels neu lesen, seinen eigenen Weg nach oben finden. Wo immer er die Spitze seines Kletterfinkens hinsetzt, er betritt, zumindest für ihn, terra incognita, den weissen, nicht vorgezeichneten Raum. Die wahren Lektionen dieses dünnen Büchleins finden sich nicht auf seinen Seiten, sondern in jeder Felsritze einer jeden Route, die in diesem Geist erklommen wird. Darüber kann man viel nachdenken und debattieren. Oder es erleben. Der Einstiegsführer liegt nun vor. 

2 – Giorgio Hösli (Hg.): Hirtenstock und Käsebrecher, Älplerinnen und Älpler im Porträt

Expedition Alpsegen

So eine dummgewaltige, so eine bodenlose und übermächtige...so ein Erdrutsch von Frage: Warum geht man in die Berge?! Heimtückisch lauert sie am sonnengewärmten Steintisch der SAC-Hütte, steht an jedem Dia-Vortrag im Raum und lässt sich nicht einmal aus dem engsten Bekanntenkreis bannen. Gestandene Bergsteiger müssen bei ihr den Nothaken der Esoterik schlagen oder ins Bonmot ausweichen. «Weil sie da sind.» (Sir Edmund Hillary), «Um dem Gefängnis zu entfliehen.» (Ludwig Hohl), «Mein Bruder ist Eishockey-Spieler, den fragt keiner nach dem Warum.» (Ueli Steck). Dabei gibt es durchaus Berggänger, die nie mit der Sinnfrage geplagt werden. Die suchen die Ruh’ auch nicht über allen Gipfeln, sondern immer schön ein Stück darunter. Dort, wo Wiesen und Kuhfladen noch saftig sind, wo das Leben nicht an Seil und Haken hängt, sondern an Arbeit, Melkschemel und der Sorge um ein hinkendes Schaf. Älpler müssen nie lange überlegen, warum sie tun was sie gerade tun. Und noch etwas haben sie den Alpinisten uneinholbar voraus. Während selbst Erstbesteiger kaum je einem Gipfel ihren Namen geben durften, sagensüchtiger Volksmund kam ihnen zuvor oder vorwitzige Geologen, haben die Älpler mit einem Streich dem ganzen gewaltigen Gebirgszug für alle Zeiten den Namen verpasst. «Das sind die Alpen!» hatten die Bergbauern seelenruhig erklärt, als frühe Forschungsreisende mit ihrem Stöckchen auf die Berge wiesen, um sich bei diesen Unortsansässigen nach Gipfelnamen zu erkundigen. Ein herrliches Missverständnis. Die Bergbewohner hatten nur Augen für die hohen Weiden, die unterhalb der Steinhaufen lagen, in denen die Zugereisten ästhetisch reizvolle Ziele sahen. Mit Felsgipfeln und dergleichen hielten sie es wie alle Bergvölker der Welt: sie sind gar nicht erst hinaufgestiegen. Und wenn, dann nur widerwillig einer verirrten Geiss hinterher. Heroismus billigten sie dem  Nutzlosen nicht zu. Das taten nur die Auswärtigen. Mit ihnen stieg man in späteren Zeiten hinauf, weil sie halt zahlten. Von den 48 Viertausendern der Schweiz wurden gerade mal vier von Einheimischen erstbestiegen. Selbst die berühmten Sherpas erklommen ihre Giganten erst auf dem Umweg über das indische Darjeeling, wo die verrückten Engländer Träger für ihre Expeditionen rekrutierten. Als letzte in der lokalen Hackordnung waren die aus dem tibetischen Hochland eingewanderten Sherpas froh um jeden Job, den man ihnen überliess. Ruhm kommt oft zu denen, die ihn nicht suchen. Aber oft auch nicht. So füllen sich die Bibliotheken mit den grossen Erfolgen der Alpinisten, mit ihren Einblicken in innere Abgründe und Ausblicken auf immer neue Gipfelträume. Biographien und Berichte, dass sich die Regale biegen. Doch auf Hirtenstock und Käsebrecher hat man lange warten müssen. Ein unaufgeregtes, aber selbstbewusstes Porträt all jener, die in der Bergwelt nicht nur auf Besuch sind – und meist wenig Aufhebens um sich machen. Zum Glück macht das jetzt Giorgio Hösli. Vor Jahren schon hat er mit Freunden das heimlich beste Schweizer Bergbuch vorgelegt. Neues Handbuch Alp ist ein sympathisch grössenwahnsinniges Sachbuch, das glaubwürdig vor dem Alpleben warnt, dabei zur Hymne gerät und all dies in einer Sprache, dass es eine wahre Literatur ist. Es hat mehr als ein begeistertes Fachpublikum verdient und Hirtenstab und Käsebrecher bekommt es jetzt. Locker geht es kurz nach Erscheinen in die zweite Auflage, wird rundum gefeiert – und auch im Bücherregal von Bergsteigern macht es sich gut. Neben all der dort verstaubenden Selbsterfahrung, den Abenteuern und Egotrips in alle Welt, bringt einen Hirtenstab und Käsebrecher aus dünner Luft sicher wieder auf den Boden. Mit Lebensgeschichten der Alpleute wie sie untypisch-typischer nicht sein könnten, mit Bildern in stilistisch-freundlichem Durcheinander. Für einmal hat sich nicht eine konsequente Bildredaktion durchgesetzt, sondern die kaum zu bändigende Lust der Macher am Zeigen und Abbilden, als wollten sie sich anstemmen gegen die Bilderflut der touristischen Vereinnahmung. Herausgekommen ist ein charmantes Fotoalbum von Erzählband. Ein Buch, das so manchen Bergverliebten den Eispickel nachdenklich zur Seite legen lässt. Älpler und Alpinisten trennen Welten, doch fühlen sie sich in derselben zuhause. Und vielleicht findet sich in Hirtenstock und Käsebrecher die Antwort auf die Frage, was nach Ehrgeiz und Selbstverwirklichung kommt. Ein unaufgeräumter Steintisch vor der Alphütte, die sommerabendliche Suche nach einer fehlenden Geiss? Oswald Oelz jedenfalls hat sich schon mal Schafe gekauft.

1 – Ueli Steck: Speed

Im Geschwindigkeitsrausch der Berge

An vielem ist Reinhold Messner schuld, dieser bärtige Superlativ, Bergfresser und grandiose Geschichtenerzähler unter den virtuosen Egomanen der Abenteuerwelt. Wie eine Urgewalt ist er über die Bergsteiger hereingebrochen. Hat nach zahllosen Erstbegehungen das Rennen um die 14 Achttausender für sich entschieden, nur um gleich wieder zu ihnen zurückzukehren um zeternden Experten zu beweisen, dass allesamt auch ohne künstlichen Sauerstoff menschen-, zumindest Messnermöglich sind. Damit wadie Ära der Gipfelstürmer mit Getöse beendet, nach oben liess der Planet keine Steigerung mehr zu. Im Alleingang hatte Messner nicht nur die eigene Bergsteigergeneration paralysiert – bis heute zwingt er die Berufsalpinisten zur Phantasie. Denn seitdem reicht ein Gipfelerfolg höchstens noch für Unsterblichkeit im örtlichen Klettershop. Alpinisten, die vom Bergsteigen – also von den Medien – leben wollen, müssen sich etwas einfallen lassen. Und da herrscht akute Absturzgefahr. Erstes prominentes Opfer war wohl Hans Kammerlander. Bekannt als Bergkamerad Messners, brachte er sich nach dessen Achttausender-Rekord mit einer Nonstop-Begehung aller vier Grate des Matterhorns in die Medien. Beeindruckend – leider fehlte dieser Turnerei jede Poesie. Er scheiterte an der neuen Herausforderung. Selbst Reinhold Messner musste sich die Frage stellen «Was kommt nach Reinhold Messner?» Doch während dieser die Welt mit grossen Abenteuergeschichten belieferte, etwa über den Yeti, Gewaltmärsche durch die Eis- und Sandwüsten und das geheimnisvoll-authentische Bergsteigerdrama um seinen verstorbenen Bruder, fuhr Kammerlander auf Skiern vom Everest ab. Ein verzweifelter Versuch, den Achttausendern ein letztes medienwirksames Schaustück abzuringen. Erreicht hatte er damit vor allem eines: Der Reigen der Kuriositäten war eröffnet. Seither hat den Everest ein Blinder erstiegen, ein Paraglider, ein Einbeiniger, ein Snowboarder, ein 13-jähriges Kind und demnächst wird ihn wohl jemand rückwärts hochgehen. Die Bergwelt wird heimgesucht von zwanghafter Originalität. «Ich lebe von den Abfallprodukten meiner Bergtouren», hat Messner schon 1977 in die Kamera Werner Herzogs gesagt. Ich glaube nicht, dass er ahnte, wie viele Abfallprodukte dermaleinst den Bergsteigern einfallen würden. Und jetzt Speed!  Und jetzt eine grosse Überraschung. Ueli Stecks Buch über das Hochjoggen der grossen Nordwände entspricht den Befürchtungen in keiner Weise. Was daherkommt wie ein weiterer Sensationseffekt, ist die atemberaubende Verdichtung einer bis anhin irrlichternden Bergsteigerkarriere. Speed entpuppt sich als die nachträglich logische Verbindung seiner bisherigen Höhepunkte am Eiger und als Free-Solo-Kletterer. Noch spannender aber: die Fähigkeit, technische Schwierigkeiten mit Hochgeschwindigkeit zu kombinieren eröffnet den Himalaja noch einmal ganz neu. Kann sein, dass Steck damit für den nächsten Entwicklungssprung im Alpinismus sorgen wird. Doch erst einmal dieser schlanke, schöne, blitzblanke Bericht aus den Alpen. Kein Bergsteigerkitsch stört die elegante Linie, in der uns Ueli Steck die Nordwände hochführt. In kurzen überlegten Sätzen nimmt er uns mit über die Schlüsselstellen. Dazwischen Gespräche mit Leuten, die dazu wirklich etwas zu sagen haben: Bonatti, Profit und natürlich Messner. Wie die beiden sich die Routendetails und weltweite Klettergeschichte um die Ohren hauen ist ein Hochgenuss. Obwohl Speed sein grosses Stück Berg-Pop ist, widersteht Steck der Versuchung, die übliche Anekdotensammlung fürs SI-Publikum abzuliefern. Zusammen mit der Autorin Karin Steinbach ist ein Thriller für Profis entstanden. Das gerade dies so gut ankommt, ist Stecks Clou. Mit extremer Genauigkeit werden die versteckten Griffe beschrieben, die abschüssigen Tritte und Eisverhältnisse, spannungsgeladen die Stunden im Zelt, minutiös die Vorbereitung vermittelt, bis zur Wahl der perfekten Handschuhe. Dies in einer Sprache, die so austariert ist wie sein Kohlenhydrateplan. Steck trainiert nach Analysen des Bundesamts für Sport und holt einen langen Anlauf. Präzise nehmen sie die Extreme auseinander bis kein Abenteuer mehr übrig bleibt. Mit Ueli Steck macht sich der Athlet in die Bergwelt auf. Und vielleicht lesen wir in Speed, wie gerade wieder eine Ära zu Ende geht.