Markus Rottmann

Things They Do with Ashes and Sand

The Glass Collection of Ray Bär Salisbury


Konzept: FRANZISKA BURKHARDT, MARKUS ROTTMANN
Gestaltung: FRANZISKA BURKHARDT
Fotografie: FELIX STREULI
Redaktion, Texte: MARKUS ROTTMANN, JENNIFER KHAKSHOURI


Auszeichnung: SCHÖNSTE SCHWEIZER BÜCHER 2021



Im Auftrag der Sammlerin. Buch und Katalog zu einer privaten Sammlung internationaler Kunstobjekte aus Glas. Mit Essay zur Geschichte und Rezeption von Glaskunst und einem Porträt der Sammlerin. 

ZUM BUCH

Kunstobjekten aus Glas wohnt ein Eigenleben inne. Sie erwachen mit dem Lichteinfall, verwandeln sich und ihre Umgebung. Dokumentiert man sie wie Skulpturen geht ihre besondere Qualität verloren. Doch Fotografie kann mehr. Das Buch zu dieser aussergewöhnlichen Sammlung soll das Lichtspiel einfangen und die Faszination einer schillernden Sammlerin. 

Die Fotografien inszenieren jedes Glasobjekt für sich. Gesetzte Spiegel, farbiges Plexiglas und die Lichtführung spielen mit den Objekten, die sich in Reflexionen präsentieren. Bewusst geht die Abbildung über Katalogfotografie hinaus. Die im Index dokumentierten Objekte entfalten ihre Lebendigkeit und Leuchtkraft. Ein eigens verfasster Essay behandelt Geschichte und Rezeption von Glaskunst im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kunsthandwerk. Im ausführlichen Gespräch mit der Kulturjournalistin Jennifer Khakhshouri kommt die Sammlerin selbst zu Wort.

Things They Do With Ashes And Sand ist das zweite Werk Der Buchreihe «Aussergewöhnliche Bücher für aussergewöhnliche Sammlungen.» Es entstand im Auftrag der Sammlerin Ray Bär Salisbury.

THE UNBEARABLE LIGHTNESS OF GLASS

The unbearable lightness of glass

Es passiert in Dubai. In einer Hotellobby. Das tausendfache Licht Dale Chihulys kommt über einen. Seine mächtige Glasskulptur sprudelt tiefblau empor, steigt auf, verjüngt sich in der Höhe und wird zu einem gelbroten Flammentanz, der das goldene Deckengewölbe zu schmelzen droht, so intensiv glühen die Farben, eingefangen und hochgeschossen in über 3000 gewundenen, sich schlängelnden Glaselementen, die das Gleissen Dubais aufnehmen und als Farbexplosion zurückwerfen, ein leuchtendes Kräftemessen mit der Sonne selbst. Langsam wird ein Rollkoffer über meinen Velours-Mokkasin gezogen. Die Empfangshalle liegt noch ruhig, doch bereits drängeln sich Familien an mir vorbei, Telefone klingeln, wohltemperierte Stimmen murmeln vielsprachig hinter den Welcome-Desks, ein paar Orchideen ringen in ihren Goldkübeln um Fassung. Ich bin auf Kunstreise hier und fröstle. Für die Klimaanlage hat man den lose gestrickten Leinen-Veston dabei, gegen den Chihuly hilft keine Sonnenbrille. Es ist ein gigantisches Meisterwerk. Vom Kitsch umzingelt, kämpft es heroisch gegen diesen überwältigenden Ort. Über zwei Jahre haben Chihuly und sein Team aus Glasbläsern und Gehilfen an der Fertigstellung gearbeitet. Es ist sein erstes Werk am Arabischen Golf, eine zehn Meter hohe Skulptur, die selbst im Katalog dieses Ausnahmekünstlers vieles überragt. Sein Schaffen umspannt mehrere Jahrzehnte und alle Kontinente. Eine Gruppe Chinesen beschwert sich über den Room-Service, jemand wünscht eine andere Aussicht. Könnten diese Leute Teil einer übergeordneten Installation sein? Ich stelle mir ein grossformatiges Video dieser Szenerie an der Art Miami vor. Kunstbetrachtung in die Meta-Ebene überführt. Ich sehe ein gutgekleidetes Publikum ernsthaft nicken und weiterschreiten zu einem an die Wand genagelten Teppich und Höchstpreise sprechen für ein überdimensioniertes Manga-Bärchen. Würde dieselbe Figur in dieser Hotellobby als millionenschwere Kunst bestaunt? Oder würde sie den Weg zum Kinderland weisen? Was, wenn hier ein Urs Fischer stünde? Zumindest seine Eigenartigkeit hätte eine Chance wahrgenommen zu werden, könnte vielleicht sogar etwas Smalltalk hergeben, während man am Welcome-Drink nippt. Kontext ist Kunst, aber Kontext ist hier auch das Problem. Und es hat mit einer verhängnisvollen Sehgewohnheit zu tun. Auf der ganzen Welt begegnen uns in Hotellobbys mediokre Glasinstallationen und Zierbrunnen. Sie sind Inbegriff geworden für einen Luxus, der billig zu haben ist. In ihrer Bedeutungslosigkeit erinnern sie an die Musik in Fahrstühlen. Auch sie ist unerträglich, wenn sie zu glatt ist. Doch scheint sie ihre Aufgabe zu erfüllen und eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen. Kaufhäuser nutzen Raumdüfte, Fahrstühle beruhigen mit Musik und Empfangshallen setzen auf fragwürdige Glass-Skulpturen, um sich etwas Glanz zu verleihen. Aber was hat dann ein Chihuly hier zu suchen? Wer hat die Investoren überzeugt, ein grosses Kunstwerk in Auftrag zu geben, wo es doch auch ein Swarovski-Wasserspeier getan hätte? Wie auch immer, ein Chihuly musste es sein. Wenngleich man seiner Kraft dann doch misstraut, seine Kunst nicht für sich selbst stehen lässt, sondern sie umringt mit Säulen, die es schaffen, gleichzeitig an Palmen, Fische und Muscheln zu erinnern. Stehen wir vor einem Kunstwerk oder einem aufgeblasenen Dekorationsstück? Einem verzweifelten Hyperrealismus, sinnbildlich für alles, was in Dubai geschieht? Man bekommt, was man darin sieht. Chihulys Skulptur symbolisiere die Unterwasserwelt mit all ihren Tieren, heisst es im Prospekt. Im gleichen Hotelkomplex befindet sich ein Aqualand mit trainierten Delfinen aus den Solomonen und Wasserrutschen durch Haifischbecken. Bestand jemals die Gefahr, dass am Kunstwerk ein Wegweiser angebracht werden sollte? Hätte man auch die Fontana di Trevi passend gefunden? Leider gibt es diesen Brunnen schon. In Las Vegas, das Caesars Palace war schneller. Wie gesagt, ich bin kein Hotelgast, sondern auf Kunstreise. Auch solche Besucher wünschen sich die Emirate. Ein neues Paris des Nahen Ostens möchten sie werden. Mit viel Geld gelingt auch dies. Die Medici von heute sitzen nicht mehr in Florenz. Doch der letzte Da Vinci hängt nicht im Louvre Abu Dhabi sondern mutmasslich in der Yacht des Scheichs, der 450 Millionen bei Christies hingeblättert hat und nun Provenienzprobleme hat. Dale Chihuly steht über diesen Dingen. Sein Ruf ist unangefochten. Als die Glasproduktion aus der Industrie in die Künstlerateliers geholt wurde, stand er am Feuer. Seine Werke markieren den Aufstieg des internationalen Glass Movements, standen in allen bedeutenden Museen der Welt und verwandelten Parkanlagen von Palästen und die Kanäle Venedigs in skulpturale Events. Dale Chihuly ist ein Mann der grossen Geste, Filme wurden über ihn gedreht, er ist Pionier und Legende, Dubai kann ihm nichts anhaben. Aber stimmt das auch für sein Werk? Wird es hier als grosse Kunst erkannt, oder als sensationelles Dekor eingesetzt? Es ist diese Frage nach Kunst oder Kunsthandwerk, die Glaskünstler, Galeristen und Sammler umtreibt, seit den Anfängen in den frühen Sechzigern, denn es ist auch die Frage der Reputation, des Ansehens und des Geldes, oder sagen wir des Status. Zeitgenössische Glaskunst kennt einen Urknall. 1962 kam am Toledo Workshop in Ohio eine Gruppe amerikanischer Wissenschaftler, Künstler und Glastechniker zusammen, um zu untersuchen, ob es möglich sei, Glas auch in der Zurückgezogenheit eines Studios herzustellen, zu bearbeiten und zu gestalten. Was als kleines Sommerexperiment begann löste eine weltweite Bewegung aus. Der kleine Workshop sollte in den folgenden Jahrzehnten ähnlich bedeutsam werden wie die wohl zufällige Entdeckung des Glases durch die Phönizier vor 3000 Jahren. Die Ägypter liebten sein Leuchten so sehr, dass sie es höher schätzten als die Edelsteine, die sie durch Glasstücke ersetzten. Die Römer verbreiteten die Glasproduktion in ihrem ganzen Reich und als der Vesuv das unglückliche Pompeji für Jahrhunderte konservierte waren die Küchenschränke gefüllt mit Flaschen und Behältern, mit Geschirr und Vasen aus Glas, dieser praktischen Schönheit, deren Produktion immer feinere Anwendungen zuliess. In den Werkstätten gelangten die Glasmacher zu grosser Meisterschaft, deren Geheimnisse streng gehütet wurden. Den weltberühmten Glasmachern im Venedig des 17. Jahrhunderts war es strikte verboten, über ihr Können zu sprechen, sie wurden mit ihren Öfen auf die Insel Murano verbannt, die sie unter Androhung der Todesstrafe nicht mehr verlassen durften. Jene, die es dennoch wagten und der Verheissung hoher Prämien folgten, wurden von gedungenen Assassinen verfolgt und ermordet. Stets lag die hohe Kunst des Glases in den Finessen seiner Herstellung. Seine Wertschätzung erhielt ein Glasobjekt aus der Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer. Im Spiel des Lichts bewunderte man Vollkommenheit, Technik und Präzision. Das Revolutionäre, das vom Toledo Workshop ausging, lag darin, dass er eine völlig neue Sichtweise auf den Weg schickte. Die vielen Künstler, die nun in kleinen Werkstätten die Arbeit am Glas aufnahmen, suchten ein inneres Leuchten, äusserliche Vollkommenheit wurde weniger bedeutsam als persönlicher Ausdruck. Wilde Farbgebung, krude Formen und neue Schöpferkraft dominierten über althergebrachte Könnerschaft. Es war natürlich auch ein klassisches Hippie-Ding. Die zunehmende Ablehnung des Establishments radikalisierte sich mit dem Vietnamkrieg. Eine ganze Gesellschaft suchte traditionelle Pfade zu verlassen. Selbstbestimmung und Selbstdarstellung wurde zum Gegenentwurf. Kunst und Kultur erlebten eine Hinwendung zum Handwerklichen, das überall aufblühte in der idealisierten Vorstellung, durch selbstentworfene Objekte sein Leben mit eigenen Händen zu formen, die Welt aus sich selbst heraus neu zu gestalten. Dafür bot Glas viel künstlerisch unerschlossenes Territorium. Glas war ein Abenteuer in sich. Seine Bearbeitung brachte grosse Hitze in die Ateliers, spannte Muskeln, war körperlich anstrengend und sinnlich. Offenes Feuer erfordert hohe Entschlusskraft, wenn es für kurze Zeit fliessen lässt, was sich in neuer Form erhärten soll. Es war die Zeit der Experimente, der Unfälle und oft unförmiger Objekte, doch rückblickend die Zeit, in der in den kleinen Öfen der Studios jahrtausendealte Traditionen eingeschmolzen und ein Material neu erfunden wurde. Vom Kunstmarkt und der Kritik noch weitgehend unbeachtet, was der Leidenschaft aber keinen Abbruch tat. Es war nicht die Zeit des Ankommens, es war die Zeit des Aufbruchs. In den kommenden Jahrzehnten entstand ein weltweites Studio Glass Movement, das nicht unbedingt von Amerika ausging, aber einen Zusammenschluss darstellte von neuen Ideen und Entwicklungen in vielen Ländern, die den Status der Glaskunst weltweit veränderten. Auch befördert durch einen immensen Austausch untereinander. Internationale Workshops, Kongresse, Galeristen-Treffen, Künstlerseminare und vieles mehr. Die Begeisterung befeuerte sich gegenseitig. Von Ohio bis Tschechien, von England, Deutschland bis Griechenland, Australien und Skandinavien. Überall entstanden neue Fertigkeiten, die weitergegeben, weiterentwickelt und zurückgespielt wurden. Doch bald schon wurden Stimmen laut, die davor warnten, sich zu sehr in die kreativen Herstellungsprozesse zu verlieben. Das Studio Glass Movement drohe zu einem auf sich selbst bezogenen Ghetto zu werden. Ein höherer Kunstbegriff dürfe sich nicht im Material und seiner Bearbeitung erschöpfen. Da war es wieder, das Thema von Kunst versus Kunsthandwerk. Und wie bei jedem guten Drama hatten beide Seiten Recht. Und beide Seiten sollten in den 70er Jahren triumphieren. Während die Glasmacherpfeife endgültig als zu primitiv angesehen wurde, entwickelten sich in hoher Geschwindigkeit warme und kalte Bearbeitungsweisen wie nie zuvor. Glas wurde geschnitten, gegossen, gestürzt, laminiert, sandgestrahlt, verziert, erweitert und das mit ungezügelter Verve. Das Handwerk erhob sich wieder zur Kunst. Bis es selbst einem der Pioniere zu viel wurde: «Technik ist billig!». Sie habe nicht zu interessieren und diene allein künstlerischen Zielen. Dies tat der Euphorie aber keinen Abbruch. Weltweit begannen immer mehr Künstlerinnen und Künstler in Glas zu arbeiten und es neu zu erfinden, der Rausch blieb ungebrochen und führte zu bahnbrechenden, bis heute gültigen Entwicklungen. Ein Goldenes Zeitalter – oder wie andere meinten: das Schmieden eines goldenen Käfigs. Die endlose Feier von Glas als Material lasse einen Ausbruch in die Kunst nicht mehr zu. Wenn Glas nur noch für sich selbst spreche, machten sich die Künstler zu Sklaven ihres Mediums. In den 80er Jahren folgte die zu erwartende Gegenbewegung. Die Anbetung von Glas als Material war definitiv vorbei. Zu handwerksorientiert und künstlerisch naiv galten nun die Vorgänger. Beruhe der Erfolg eines Kunstwerks auf Material und Bearbeitung allein, bleibe es auf einer konzeptionellen Ebene suspekt. Die in diesem neuen Geist entstehenden Werke waren wieder unbequemer und in der Ausführung unverfrorener, was Sammler und Galeristen erst irritierte und nicht selten erhob sich der Vorwurf vom Verrat am Glas. Was natürlich viele Glaskünstler erst recht darin bestätigte, dass man sie auf ihr Handwerk reduzierte. Die unbändige Experimentierlust wich einer Ernsthaftigkeit. Sie fürchteten das Ende des Glass Studio Movements, sollte es nicht gelingen, die Grenzen zur Bildenden Kunst aufzuheben. Aber konnten das nur Künstler? Wie ein Salvador Dali, der zwar ebenfalls in Glas arbeitete, aber dennoch nie in Verdacht geriet, ein Kunsthandwerker zu sein?  Für die Qualität einer Skulptur durfte es keine Rolle spielen, ob sie aus Bronze, Marmor, Holz oder eben aus Glas gefertigt wurde. Um Glas zu erheben musste es überwunden werden. Oder wie es eine junge Glaskünstlerin formulierte: «Glas ist zum hübschen Mädchen der Kunstszene geworden, es muss sich härter beweisen, um anerkannt zu werden.» Mussten Glaskünstler also auch noch Künstler werden? Aber waren sie das nicht schon längst? Respekt braucht mehr als Liebe, der Kunstmarkt sucht nach Intention, Vision, Projektion. Doch konnte es wirklich sein, dass ihre Liebe zum Glas es nicht öffnete, sondern limitierte? Durchaus, wenn man sieht, wie zeitgenössische Museen bis heute Glaskunst ausstellen und mit Texten würdigen, die ihre superbe Machart preisen, diesem vergifteten Kompliment, das diese Kunstwerke wieder zu Kunsthandwerk degradiert. Würde man an einem Rodin loben, er sei aus Bronze gefertigt? «Beachten Sie, liebe Besucherinnen und Besucher, es handelt sich bei dieser Büste um professionellen Kunstguss.» Aber was ist sie denn diese Kunst? Dieser unfassbar scheinende Begriff. Vielleicht ist sie von allem, was sie sein könnte, eine Art der Kommunikation. Kunst entsteht, indem sie zu uns spricht. Sie bewegt uns, will es zumindest. Nicht mit Worten, oft in Rätseln und auf mehreren Ebenen gleichzeitig, dann wieder konkret auf ihre bestechend unkonkrete Weise, aber sie braucht ein Gegenüber, um zu erstehen. Kunst übermittelt uns einen Zustand, ein Gefühl, ein Unbehagen, Irritation, Drama, das Drama der Banalität, etwas Unaussprechliches, was immer das sein mag. Kunst beginnt einen Dialog. Mit ihrem Raum. Mit ihrer Zeit. Dafür bricht sie mit Konventionen, bekräftigt eine Vorstellung, unterläuft Denkmuster oder etabliert neue, sie führt uns - und sich selbst - in unbekanntes Gebiet. In der Kunst denkt der Mensch über sich nach. Die grössten Kunstwerke ihrer Zeit veränderten für immer unseren Blick auf die Welt und uns selbst. Nach derlei strebt das Kunsthandwerk eher weniger. Es geht über Schönheit und Perfektion nicht hinaus. Reines Kunsthandwerk löst Bewunderung aus, aber keine Gedanken. Es stellt uns keine Fragen, ist sich selbst Antwort genug. Statt Muster aufzubrechen, bedient sie sich ihrer. In der extremen Form verliert sich Kunsthandwerk im Kitsch. Und dessen Absicht ist stets so offensichtlich, dass er fast schon wieder ehrlich ist. Kitsch ist die berechnende Melodie auf der Gefühlsklaviatur. Kitsch kennt die richtigen Knöpfe und drückt sie alle. Kitsch ist eine gekonnt manipulative Verführung, nur gut, wenn man sich wissentlich hingibt, und trotzdem immer etwas schal danach. Kitsch ist die böse Schwester des Kunsthandwerks. Nicht wenige sehen Glas und seine künstlerischen Ambitionen generell in Gesellschaft dieses Luders (Bitch). Doch haben diese Leute keine Ahnung oder den Kunstsinn einer Farbvase aus der IKEA. Kunsthandwerk ist Hingabe und lässt uns Schönheit erleben, die nichts anderes will als das. In der reinsten Weise. Das ist zwar nicht der interessanteste Flirt auf der Vernissage, aber pure Freude. In ihrer Vollendung das höchste der Gefühle, die endgültige Antwort. Ich erinnere mich an eine chinesische Tasse, achthundert Jahre alt, aus beinahe durchscheinender Jade. Fast zerbrach ich angesichts ihrer zeitlosen Modernität. Nichts wies über sie hinaus, doch ihre minimalistische Eleganz leuchtete wie ein Gebet. Und es waren keine Fragen mehr. In meinem ganzen Kunstbegriff erschüttert stand ich vor ihr. Die Demut des Kunsthandwerks transzendiert sie und wird zu einer inneren Schönheit, einer höheren Perfektion, einer berührenden Erhabenheit. Manchmal ist das alles, was wir brauchen. Doch bevor dieser Vorhang fällt, tritt Leonard Cohen auf und der Dichter erinnert uns: «Forget your perfect offering. There’s a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.» Damit steht die Kunst wieder auf der Bühne. Wo das eine von fehlender Perfektion zerstört wird, kann sie der anderen nichts anhaben, sie ersteht oft aus ihr. Vielleicht ist der «Crack» die Antwort, auf die oft unterstellte Oberflächlichkeit. Glas fehle die Struktur, es sei attraktiv in seinem Glanz aber zu schnell durchschaut. Ein Vorwurf, der heute nur noch durch seine Kurzsichtigkeit besticht. Längst hat sich Glas bewiesen und ist zu einem Major Player geworden in der Kunst, im Design – man denke an die stilbildenden Arbeiten eines Ettore Sottsass – und der Architektur. Selbst hier in Dubai und seiner Grandiosität besteht sie als eigenständiges Werk, steht sie für sich. Nun wird mir doch noch heiss in dieser Eingangshalle des Atlantis, The Palm. Glas als Medium zeigt sich heute in derart mannigfaltiger Gestalt, dass sich jede Frage nach seiner Bearbeitung darin verliert. Material als Kategorie ist doch überholt. Wieso arbeiten Künstler in Glas? Weil es da ist. Wenn es überhaupt eine gemeinsame Eigenschaft geben soll, die unzählige von grossartigen, frischen, eleganten, surrealen, atemberaubenden und schlichten Kunstwerken eigen ist, dann vielleicht die Lebendigkeit des Lichts darin. Die Wandelbarkeit der Farben. Jede Glasskulptur verändert seine Umgebung. Glas kann das. Glas tut das. Es spielt in den Raum, verändert seine Stimmung und verändert sie wieder und wieder. Der bedeutende Kurator und Ausstellungsmacher Hans Ulrich Obrist hielt einmal fest, es sei die Fähigkeit bedeutender Kunstwerke, dass sie sich in der Betrachtung wandelten, nie gleich seien, weshalb wir stets zu ihnen zurückkehren. Auch das Ansehen des Glases wird sich noch viele Male ändern. Ob in London, Miami, Paris, Basel – oder eben Dubai. Je anmutiger mir die Schwingen dieser Skulptur aus schimmernden, gläsernen Skulpturen nun erscheint, umso schwerer werden meine Gedanken, die sie umkreisen. Da gleitet eine kleine Hand in meine. Der Junge in gestreiften Badeshorts muss mich verwechseln, scheint weder mich noch meine Versunkenheit zu bemerken und ruft: «Look Dad, it changed again!»