Markus Rottmann
ODE AN EINEN STEIN
SIEBEN GOLDENE REGELN
ALLER TAGE WERK
DIE ÜBERFAHRT
HOTLINE CARPE DIEM

Grabes Stimme


Fünf Hörgeschichten für die permanente Grabstein-Ausstellung auf dem Friedhof Sihlfeld

Stimmen: GIAN RUPF, MIRIAM JAPP
Sound: HANSUELI TISCHHAUSER

Auftraggeber: FRIEDHOF FORUM ZÜRICH

Auf dem Friedhof Sihlfeld befindet sich ein ganz besonderes Grabfeld. Es handelt sich dabei um eine Sammlung historischer, kurioser, bedeut- und seltsamer Grabmäler. Auf Lauschockern hören die Besucherinnen und Besucher literarische Geschichten zum Thema und Historisches, wie etwa die Korrespondenz eines erbosten Bürgers mit der Friedhofsverwaltung. 


Neue Zürcher Zeitung, 23.6.2018
Tages Anzeiger, 24.6.2018

ODE AN EINEN STEIN

Jetzt liege ich unter diesem Stein. Also, keine Ahnung vor welchem Stein Sie gerade stehen, aber ich liege unter diesem. Keinem anderen. 

Alles lastet auf einem, drückt einem die Brust, die Tage sind gelebt, die Sünden begangen, die Weichen gestellt, und wieder umgestellt, die Wege haben sich gekreuzt, man ist sich begegnet, hat entgegnet, hat gelebt und auseinander gelebt, begleitet und verleitet, hat gefunden und verloren, ist sich wieder begegnet, das tut man bekanntlich immer zweimal, im seltenen Fall auch dreimal, dann bleibt man besser gleich zusammen, denn ein viertes mal wäre dann schon auffällig, und es stünde zu befürchten, man hätte ein Zeichen verpasst, darum aufgepasst, und doch frisch losgestolpert, also das Leben ist ganz schön Bewegung, aber am Ende: ein Stein. 

Schon schwer. Aber wenn man sich’s leisten kann: schön schwer. Marmor. Granit. Beton hat auch seinen Reiz, eine modernistische Noblesse, ein Grau von schlichter Vehemenz. 

Am Ende liegt alles fest. Kein Durcheinander mehr, dafür sorgt der Stein. Früher verschloss er Grabhöhlen, wurde davor gerollt, heute wird er darauf gelegt. Beschwerde, für alle, die sich nicht mehr beschweren müssen.

Aber:

Hütet Euch vor dem Geschmack Eurer Angehörigen, wählet zu Lebzeiten. Oder ihr steckt für immer im falschen Anzug. Versace per sempre. Nur, weil ihr Euch nicht mehr wehren könnt. Euer Name auf einem marmorierten Fleischkäse in schwülstiger Goldverzierung. Gut, es gibt Schlimmeres. Aber halt auch viel Besseres. 

Und das liegt dann da. Auf einem. Das Buch geschrieben. Die Wege gezeichnet. Die Spur gelegt. Die Worte gesagt. Das Werk getan. Unverrückbar. Auch das, was Du nicht getan hast. All das Ungesagte liegt mit Dir. Was ungetan, bleibt es nun für immer. Das ist gut. Lass es gut sein. Hier unterm Stein. Der Stein schützt Dich vor dem Sollt’ ich noch, Müsst’ ich noch, Will ich noch, Hätt’ ich doch. Der Stein bringt Ruhe. Endlich ist alles festgelegt. 

Den Verwandten kommt das gelegen. Ein Paar Blümlein pflegen, ein paar Sünden vergeben, etwas nachträglichen Segen, und sich dann schnell vom Acker begeben. 

Macht nichts. Ich bin ja auch nicht hier. Soll ich ihnen etwas verraten? Das bin nicht ich unter diesem Stein. Also, keine Ahnung vor welchem Stein sie gerade stehen, aber ich bin woanders. Der Stein ist nicht für die darunter. Der Stein ist für die darüber, die Trauernden, die Staunenden, die Besuchenden. Denen gibt er halt. Nicht denen, die nicht mehr sind. Weil die jetzt überall sind.

SIEBEN GOLDENE REGELN

Grüezi, mein Name ist Clavadetscher, Grabsteinmetz und Bildhauer. Von Clavadetscher, Grabsteine und Söhne ... und Angeheiratete. Ich stelle mich mal vor und ein paar Sachen klar, wenn’s nichts ausmacht. Die Leute denken immer, das Grabsteinbusiness sei ein trauriges, weil man’s mit dem Tod zu tun hat. Aber das stimmt nicht. Traurig ist es, weil man’s mit den Lebenden zu tun hat. Die meinen, wenn der Tod kommt, sei alles fertig. Ja von wegen!

Wenn der Tod kommt, kommt die Verwandtschaft und die Hausverwaltung, die Stadtverwaltung, das Brockenhaus, die Wohnungsmakler, die Wohnungssuchenden, die Nachbarin mit ihrem Schwiegersohn und es kommt die Todesanzeige. Die erste Fassung, die zweite, die dritte, dann eine Flasche Rotwein, die führt zur vierten Fassung und zur fünften, und vielleicht wird’s dann doch wieder die erste Fassung. Jetzt kommen auch die Bekannten und die nicht so Bekannten und solche, die offiziell niemand, aber inoffiziell alle kannten. Wenn der Tod kommt, kommen sie alle. Die Zügelmänner, die Sargträger, die Blasmusik, die Rechnungen und die Überraschungen. Und in all der Hektik soll man Ruhe finden und über den richtigen Grabstein sinnieren?

Unvorbereitet stehen sie dann in meinem Laden. Die letzte Reise buchen immer alle Last Minute. Jedesmal muss ich ganz von vorne anfangen. Das dauert 10 bis 15 Millionen Jahre, ... also bis so ein Stein entstanden ist. Und jetzt soll es schnell, schnell gehen! Mach Dich und mich glücklich und halte Dich an meine sieben goldenen Regeln.

EINS
Überstürze es nicht. 

Nimm Dir Zeit. Es spricht nichts dagegen, schon mit zwanzig an seinen Grabstein zu denken. Wenn Du die ersten Schritte ins Leben hinaus machst. Welcher Gedanke wird Dich leiten? Was wird Deine Signatur? Was Dein Gewicht auf Erden? Siehst Du, wenn Du das alles weisst, dann hast Du schon Deinen Stein. Typographie überlege ich mir dann, Deinen Leitsatz krieg ich schon irgendwie gekürzt, und Dein Gewicht kommt auf Dein Portemonnaie an. Sprich mit einem Bildhauer, er kann Dir beistehen. Mit kräftigem Hau oder feinfühligem Meissel.

ZWEI 
Übertreibs nicht mit den Engeln

Ich verstehe ja, dass einen der geschmeidige Stein hinreissen kann, lockende Lippen in Bronze gegossen, so ein jugendlicher Busen in Marmor, ewige Verführung aus Carrara, brasilianischer Smaragd Fire. Das Auge wandert, wo die Hand ruhen möchte. Eine Büste zum Niederknien. Ein Engel mit verlorenen Flügeln. Wenn der auf Deinem Grab sitzt, was kann es Vollkommeneres geben? Was kann es Verkommeneres geben!!! Himmelherrgott, Deine Frau will Dich auf Deinem Grab besuchen, und wer steht vor ihr?! Deine Mätresse aus Stein?! Soll sie etwa Primeln zupfen zu Füssen Deiner Lustgöttin?! Reiss Dich zusammen auf deinem letzten Bett. Also wirklich.

DREI
Pflanze einen Baum, baue ein Haus, finde einen Partner, wähle einen Grabstein.

Im schlimmsten Fall ist das alles dasselbe, aber Scherz beiseite. Den Grabstein platzierst Du mit Vorteil unter dem Baum, dann liegst Du schön schattig, hast Du Kinder gezeugt, häng noch eine Schaukel dran, dann kommen sie dich auch besuchen. Sieh zu, dass der Stein etwas von Deinem Charakter hat. Deine Angehörigen erzählen ihm mehr, als Dir. Weil sie nicht ständig unterbrochen, ...weil sie endlich mal ausreden können, ist doch wahr!

VIER
Sei originell, ...

... wenn Du als kompletter Idiot vor der Nachwelt dastehen willst. Ein Hündchen, das ans ewige Licht pinkelt, der lachende Sensenmann auf der Harley, Runen aus dem Vorspann von Game of Thrones, oder Zeichen, die den Ausserirdischen den Weg weisen sollen? Hab ich alles schon gemacht. Wenn Du Freaks willst, die an dein Grab kommen dann schreib Jim Morisson drauf. Ansonsten: Sei originell, und sei nicht originell.

FÜNF
Sei nett zu Deinem Bildhauer.

Du liegst hier länger, als Du denkst. Ich sage Dir, sei nett zu Deinem Bildhauer. Der kann Dich für sehr lange Zeit sehr blöd aussehen lassen. So lange, davon kann ein Tätowierer nur träumen. Der entstellt Dich fürs Leben, ich dagegen ...

SECHS
Mach’s Dir einfach. 

Nimm den erstbesten Stein, gleich den aus dem Schaufenster. Lass auch gleich den Namen drauf. Max Mustermann passt immer. So ein Schmuckgranit tut’s für die anderen, also auch für Dich. Dein Leben lang hast Du in einem Wohnblock gewohnt, da ziehst Du einfach in einen anderen Block. Gleiche Architektur, grau, mausgrau, spinnwebgrau, oder wie Du Dein unauffälliges Auto genannt hast: anthrazit. Wenn Du ein Langweiler warst im Leben, sei es auch im Nachleben. Bloss nichts Besonderes, bloss nicht aus der Friedhofsreihe tanzen. Schön eingepasst, in die tote Gesellschaft. Ein weiterer Grabstein mit einem Namen, an den sich keiner erinnert, weil Hans was Heiri. Wenn Du das willst, also wenn Du das willst, dann hol Dir doch ein solches Tischset für die Würmer - und für Deine Nachkommen, die lieber gehen als kommen, aber komm nicht zu mir. Ich bin ein Künstler!!!

Ah, und bevor ich’s vergesse: 

SIEBEN
Bitte sag es mir vorher, wenn es sich beim verstorbenen Angehörigen um ein Haustier handelt. 

Merci. 

ALLER TAGE WERK

Hier irgendwo muss es sein. Auf diesem Friedhof. Hier ruht Maria. Sie, die nie geruht hat. Hier liegt sie jetzt. Sie, die sich ein Leben lang nicht mal hingesetzt hat. Zur Ruhe gesetzt haben sich alle anderen. Sie hat sie besucht, mit ihnen vom Balkon geblickt und bevor sie ging, das kleine Tablett mit den Sherry-Gläsern in die Küche getragen, heimlich noch schnell abgespült und sich dann verabschiedet. Sie hatte noch zu tun gehabt. 

Hier ruht Maria. Unter einem Laken aus schillerndem Marmor, glänzender Granit war ihr letzter Wille. Sie hat sich eine Ruhestätte bauen lassen aus den kleinen Geldbeträgen, den ungezählten Stunden, die sie gewissenhaft in die Büchlein eintrug, die man ihr hingelegt hatte. Jetzt liegt sie unter einer blauen Kuppel, in ihrem Grabmal von acht auf zehn Metern. Frisch geharkte Blumenrabatten säumen einen kleinen Weg, der zum Stein mit ihrem Namen führt. Neben die Säulen hatte sie sich Rosenstöcke gewünscht – und bekommen. Wer bezahlt, bekommt. Es ist ihr Vermögen, das nun blüht wie ein kleiner Park für die Vögel und die Spazierenden am südlichen Ende des Friedhofs, ihr Geld, das die ganze Anlage dominiert, und in Gesprächen auch all die anderen Friedhöfe der Gegend. Wer um Himmels willen gibt sich hier die Ehre? Welche Familie, welches Stadtoberhaupt, welcher Dichter, welches Verdienst? Hier liegt Maria, die Putzfrau. 

Wer sie gekannt hatte, hatte sie meist nicht einmal gekannt. Sie war bei ihnen Zuhause gewesen. Alleine in Zimmern mit schmutzigen Betten. Sie hatte die Esstische abgeräumt, die leeren Flaschen unter die Spüle gestellt, in verschmierte Badezimmerspiegel geblickt. Ein paar Stunden jede Woche oder jeden Monat. Das kam darauf an. Ob Alleinstehende wieder liiert waren, ob Ehemänner geschäftlich verreisten. Ob die andere Frau den Staub kontrollierte. Doch damit war es nun vorbei, das Notizbüchlein zugeklappt, das Heft abgegeben. Wo Maria gearbeitet hatte, putzen längst andere. Maria Bachstetter, Maria Sanchez, Maria Dumitru, Maria Sousa, Maria Nowak. Sie arbeiten schwarz oder legal, manche tragen Namensschilder, Maria trägt nun Goldlettern. 

Neureichgeschmacklos,typisch, raunen einige, die gemessenen Schrittes an ihr vorbei gehen, heimlich beeindruckt von der Lage, der Grösse. Sie fordern Bescheidenheit. Auch jetzt noch. Etwas Bescheidenheit im Angesicht des Herrn! Wer zuletzt protzt, protzt am besten?! Die Frau hätte sich besser eine Kreuzfahrt gegönnt, sich mit einer Sonnenbrille aufs Achterdeck gelegt, die Meeresluft durchs Haar wehen lassen und vielleicht jemanden kennen gelernt, anstatt hier in dieser steinernen Arche in die Ewigkeit zu fahren. 

Maria hat gearbeitet und gespart. Zweimal war sie verheiratet gewesen, zweimal verlassen worden. Soviel ich weiss gibt es Söhne. Der eine sitzt mal wieder, vom anderen wusste Maria nicht einmal wohin sie das Geld hätte schicken können. 

Ich habe gehört, sie hätte für hundert Jahre bezahlt, sei aufs Friedhofsamt, habe das Geld auf den Tisch gelegt, sauber abgeschlossen und ein ganzes verdammtes Mausoleum bestellt. Das wird noch stehen, wenn Eure Nerze nur noch den Motten gefallen, wenn die Ferraris längst von Euren Sprösslingen an die Wand gefahren worden sind. Dann wird sie die Köpfe verdrehen, sie, mit der ihr im Leben und wenn überhaupt, nur auf kleinen Zetteln kommuniziert habt. Maria hat Euch eine letzte Nachricht hinterlassen.

Aber wissen Sie was? Für Maria hätte es auch ein Holzkreuz getan. Hat sie selbst gesagt. Ein schmucker Jesus darauf, poliertes Holz, das sich mit etwas Öl behandelt wunderbar hält und bei Regen einen schwachen Glanz bekommt. Das hätte ihr gefallen. Aber der Marmor wirkt einfach besser. Sie mochte die Oberflächen, den Stein, die Bronze, sie mochte es, mit der Hand darüber zu fahren. Dekorieren ist was für andere. Für die, denen es nie genug ist, die können das tun. Wer dem Eigentlichen nicht traut, glaubt am Ende auch nicht an sich selbst. So sah sie das.

Aber dann dieses Monument ... ?

Ich hab’s erst viel später verstanden.

Maria hat nicht ein Grabmal für sich gebaut, Maria hat ihnen allen ein Denkmal gesetzt. 

DIE ÜBERFAHRT

Sie war den ganzen Mississippi hinab gefahren und glitt nun auf das offene Meer hinaus. 

Leicht wie in ihrer Jugend. Gischt umspielte ihren Bug, sanft erhoben sich die Wellen, schlugen auf ihren Leib, der Ozean gegen ein paar Tonnen Stahl. Möwen torkelten, schossen hinab und stachen wieder zurück in den Himmel, der sich weit und blau über ihr spannte. An ihrer Seite tauchten kleine Fische auf und wieder ab, während das weisse Delta hinter ihr verfloss. Bald gab es nur noch die Weite und den Wind und langsam sank die Nacht. 

Viel später lag sie unter Sternen, die ruhig standen wie Positionslichter all derer, die vor ihr hier draussen waren. In der Messe wurden die Teller abgeräumt, Zündhölzer angerissen, es blieb nichts mehr zu tun an diesem Abend mit seiner metallisch schimmernden See. Letzte Blicke hinaus auf das Mondlicht, das im Wasser zitterte. Noch einmal in diese Unendlichkeit sehen, die ihr nicht mehr gehörte. Sie war ein altes Schiff, dies ihre letzte Fahrt.

Eine Schönheit war sie gewesen, ein Kind ihrer Zeit, verheissungsvoll wie ein Cadillac, atemberaubend, stark, perfekt, voller Anmut, steter Aufbruch. Sie kannte die Meere, hatte sie alle befahren. Wer sie sah war geblendet. Es gibt eine Einsamkeit, die nur Seeleute in sich tragen, aber auch eine Sehnsucht, die uns alle stumm macht, und die sich einstellt beim Anblick eines solchen Schiffes. Sie hatte in Häfen gelegen mit uralten Namen. Von Deck blickten die Offiziere hinab in ein Gewimmel, das einige Leben nannten. Sie hatten es besser gewusst und waren aufs Neue hinausgefahren, wurden hinausgezogen von etwas, das nur sie spürten, in dem sie aufgingen und darin versanken. 

Ein stolzes Schiff war sie. Auch heute noch. Ihr Rost hundertfach überstrichen, aber so genau blickte niemand mehr hin. Sie hatte die Zeit überstanden, in der das Verlangen einer Wehmut, die Romantik einer milden Treue gewichen war. Wer sie kannte, liebte sie, wer sie sah, erinnerte sich. Gleissend waren nun andere.

Auch ihre Crew war gealtert. Einmal noch hatte es diesen Kapitän gegeben. Im Krieg hatte er in der Navy gedient, danach etwas Geld in Immobilien gemacht, die ihm nichts bedeuteten. Nach dem Tod seiner Frau ging er wieder zur See. Er war kein gut aussehender Mann gewesen, doch hatte er die Fähigkeit besessen, selbst in einer abgetragenen Uniform noch Format zu haben. Er war von ruhiger Autorität. Ihn auf der Brücke zu wissen, liess sie alle besser zurechtkommen. Erst später bekam seine Ruhe einen süsslichen Atem, rollten die Flaschen in seiner Kabine hin und her. Sein Gang blieb gerade, doch seine Bewegungen wurden bedachter. Die Schritte eines Mannes, der sich Mühe gibt, nicht zu schwanken. Daran ist nichts Schlechtes.

Als es auf ihr Ende zuging, war sie noch lange nicht am Ende. Sie wurde immer noch geschätzt. Man konnte sich auf sie verlassen. Und immer noch wusste sie, wie man etwas her machte. Doch wer schien das noch zu bemerken?

Es kamen neue Schiffe. Sie kreuzten auf und waren da, als hätte die ganze Welt auf sie gewartet. Hatte sie auch. Es gibt ein Vorrecht, das man erst bemerkt, wenn man es verloren hat. 

Sie erreichten Bangladesch am Abend des 12. Juni. Ein letztes Mal wurde ihre Ladung gelöscht. Die Mannschaft ging endgültig von Bord. Verkatert, aber frisch rasiert. Ein letztes Mal streiften die Hände über ihre Reling. Jetzt keine Sentimentalität.

Die Männer, die nun an Bord stiegen, zollten ihr Respekt, so wie sie das für alle Schiffe taten, die sie überführten, sich dabei an andere erinnernd, die ihnen etwas bedeutet hatten. Schiffe, an die sie an ihrer statt dachten.  

Sie brachten sie an den Strand im Nordwesten von Chittagong, bei Springflut setzten sie in den Sand. Langsam zog sich das Wasser zurück, das Meer verliess sie.

Später kamen Arbeiter aus dem flirrenden Horizont, vereinzelte, dann immer mehr. Sie trugen keine Schuhe, einige mit Klebstreifen zusammengehaltene Plastiksandalen. Viele waren sehr jung, die meisten von einer muskulösen Magerkeit, um die Hüfte trugen sie geschlungene Tücher, Schnurbärte unter Augen schwarz wie Glas. Schnell und leicht kletterten sie die Ankerkette hoch, fanden das Kupfer, die Lampen, das Steuerrad, die Bettgestelle, kamen mit Matratzen auf dem Kopf wieder zum Vorschein.

Es wird die Arbeit ihrer Hände und Rücken sein, die in den nächsten Monaten abbauen, abrüsten, demontieren, das Schiff in tonnenschwere Stahlplatten zerlegen und über die Dünung abtransportieren zu den qualmenden Lastwagen, die hin und her fahren zwischen dem Strand und der Verwertungsindustrie. Über 150'000 Bangladeschi leben und arbeiten mit dem alten Stahl.

Sie hängen am Rumpf der Giganten wie Artisten mit blitzenden Schweissgeräten, schleppen armdicke Stahlkabel kilometerweit zu den Wracks, um die Trümmerteile an Land zu ziehen, laden Stahlplatten auf viele Schultern und marschieren ab. Ein Tausendfüssler im schlammigen Grund. Hinter ihnen noch mehr herabfallender, krachender Stahl, verbogenes Eisen. Mit den Tauen der hundert Männer würde auch die Sphinx auf letzte Reise gehen. Berstender Rost bestäubt ihre Körper. 

Das Schiff, das längst keines mehr ist, verschwindet im Gewirr von Chittagong, in Buden, Haushalten oder in der Glut von Eisenhütten und Walzwerken, aus deren Rohmaterial wieder Messer entstehen, Schaufelblätter, Trommelspanner, Scheren. Weit im Landesinneren wachsen neue T-Träger in die Luft, die Skelette der Hochhäuser von morgen. 

Noch weiter weg liegt eine Shiva Nataraj in einer samtenen Auslage voller Devotionalien. Tanzend zerstört sie das Universum, um es neu zu erschaffen. Was wissen diese kleinen Göttinnen vom Kupfer und Eisen, aus dem sie bestehen? Vom Meer, der Glut der Tropen und den kalten Wassern vor Gibraltar? Rein und unberührt liegen sie auf einem Markttisch in Saidpur und blicken an die Decke, hinter der sich ein Himmel wölbt, den sie erst ahnen.

Vor einer Woche betrachtete ich den Fotoband Shipbreak von Claudio Cambon. Nichts wird je geboren, dachte ich, nichts stirbt, alles transformiert sich. Diesen Satz wiederum hatte ich in Mailand gelesen, im Parco Sempione auf einem öffentlichen Abfallkübel.

HOTLINE CARPE DIEM

Telefonistin:
Guten Tag, hier spricht das Vorzimmer Jenseits. Der Tod möchte sie sprechen. Moment, ich stelle durch ... 

Der Tod:
... Ja?, hallo, guten Tag, wie geht es Ihnen? Geht es ihnen gut? Sind Sie sicher? Haha, kleiner Scherz, geht mich auch gar nichts an, ich bin ja nicht ihr Arzt. Hahaha, nein, ich bin sicher nicht ihr Arzt, Leben verlängern,... ah, der ist gut. Muss ich mir merken. Sorry, schon wieder ein Scherz. Ich kann manchmal nicht an mich halten. Es ist aber auch nicht fair. Alle dürfen schwarzen Humor haben, aber wenn ich mal lustig bin, bekommen’s die Leute mit der Angst zu tun. Wenn ich mal das Zwerchfell ein wenig mit der Sense kitzle, dann lacht sich niemand Tod. Nein, bitte legen sie jetzt nicht auf. Spass beiseite, ich versprech’s. Also jetzt mal todernst ... okay, okay, ich hör schon auf. Ich wollte nur frühzeitig Bescheid geben, dass wir uns ja demnächst, also noch nicht so bald, aber irgendwann dann schon einmal, also ... treffen. Nur so zum sagen. Aber kein Druck. Bitte nicht falsch verstehen. Dies ist nur ein Erinnerungsanruf. So ein bisschen Carpe diem würde jetzt nicht schaden. Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wie nutzt man eigentlich so einen Tag? Mehr tun, weniger tun, mehr für andere tun, mehr für sich tun, gar nichts tun? Also nach meiner Erfahrung ...

Telefonistin:
Wir unterbrechen den Anruf für etwas Werbung:

Werbestimme, unterlegt mit Werbemusik:
Buchen Sie noch heute ihren Platz auf dem Friedhof Schönruh.
Die gepflegte Anlage im Herzen ihrer Stadt.
Wo sich Tradition und Moderne treffen.
Ihr Grabfeld im urbanen Umfeld.  
Rollstuhlgängig mit top Verkehrsanbindung.
Unsere Gärtner tun alles, um ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.
Schönruh, Ihr Friedhof mit Happy End.
Wir freuen uns auf ihre Buchung.

Telefonistin:
Grüezi, sind sie noch dran? Vielen Dank für Ihre Geduld. Der Tod hat noch ein paar persönliche Worte für Sie, ich darf verbinden ...

Der Tod:
... also, wo waren wir, ... genau, ein erfülltes Leben. Nun, wie gesagt, nicht gerade mein Zuständigkeitsbereich. Aber eines kann ich ihnen sagen, wenn die Leute vor mir stehen, sind die sich ziemlich im Klaren darüber, was sie noch tun wollten. Da müssen die nicht lange überlegen. Das kommt wie aus der Pistole geschossen. Haha, ... sorry. Und wissen sie, was mir das sagt? Dass eigentlich alle ziemlich genau, und ohne zu überlegen wissen, was wichtig ist. Steh’ ich vor ihnen ist der Sinn des Lebens keine Frage mehr, sondern ganz viele Antworten. Und keiner hat je gesagt: „Hätte ich doch nur mehr Zeit mit dem Internet verbracht ...“,  „Oje, ich war viel zu wenig im Büro!“, „Oh, ich hätte so gerne noch etwas Staub gesaugt“.Das ist definitiv noch auf keinen Grabstein gemeisselt worden. Sehen sie nach, wenn sie’s dem Tod nicht glauben. Also, Carpe diem miteinander. Sie wissen schon, ... die Wahl liegt bei Ihnen.

Telefonistin:
Sie befinden sich im Menü Leben: Für Sinn des Lebens drücken Sie Hashtag 1, für Kontakte ins Jenseits drücken Sie Hashtag 2, für alle anderen Anliegen drücken Sie Hashtag 3 und für ihre genaue Todeszeit drücken Sie die Sterntaste. Für Aufschubanträge wenden Sie sich an die Helpline der Ärztekammer oder ans Sportamt. Haben Sie eine allgemeine Frage bleiben sie in der Leitung, sie werden verbunden, sobald eine Mitarbeiterin, ein Mitarbeiter frei ist.

((Warteschlaufenmusik))

Telefonistin:
Grüezi, sind sie noch dran? Vielen Dank für ihre Geduld. Leider sind alle unsere Service-Mitarbeiter besetzt. Wünschen Sie Carpe-Diem-Push-Nachrichten auf ihr Handy drücken Sie Hashtag 7.

((Warteschlaufenmusik))

Telefonistin:
Grüezi, sind sie noch dran? Vielen Dank für ihre Geduld. Im Moment sind alle unsere Leitungen besetzt. Bitte rufen Sie später an. Oder wir sie. 

((Ton in der Leitung))