Markus Rottmann

Calanca

Verlassene Orte in einem Alpental


Leineneinband mit Banderole
168 Seiten / 25 x 39 cm
63 doppelseitige Farbfotos

Fotografie: OLIVER GEMPERLE
Text: OLIVER GEMPERLE, MARKUS ROTTMANN
Gestaltung: CORINA KÜNZLI

www.benteli.ch

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Während Jahren durchstreifte Oliver Gemperle mit seiner Kamera die Wälder und Flanken des abgelegenen Calancatals. Zu jeder Jahreszeit und irgendwann gemeinsam mit Markus Rottmann. Hier, wo einst 3000 Menschen ihre Alpen bewirtschafteten, finden sich heute verfallene Steinhaufen, vom Wald verschluckte Weiden und dornenversperrte Zustiege. Selbst von der Schweizerischen Landeskarte sind die Alpsiedlungen verschwunden. Dennoch hat sie Oliver Gemperle aufgespürt und porträtiert mit einer an Romantik grenzenden Sturheit.

ÜBER STOCK UND STEIN UND GEÄST UND GESTRÜPP, DURCHS GERÖLL INS ERLENGEWIRR, HINEIN INS UNTERHOLZ, DANN VERSCHLUNGEN VON VERGESSENEN PFADEN

„Grossartig“
„Wo?“
„Na, dort drüben.“
„Wo?“
„Neben dem kleinen Gebüsch. Die Senke. Und da, ... die verschwindende Geröllhalde. Die Steine dort, das muss es sein.“
Ja. Das musste es wohl sein. Langsam liess ich Olivers Fotostativ von meiner Schulter gleiten, legte den Rucksack ab und blickte mich um auf der kleinen Lichtung, die wir heute erobert hatten. Ein alpinistisches Tagewerk der eigentümlicheren Sorte. Links und rechts über mir ein paar gut gezackte Gipfel, die mich gelockt hätten. Diese Wiese in einer Art Felskessel, ein schöner Ausgangspunkt, um endlich hochzusteigen, etwas Luft um den Kopf zu bekommen, nach all dem Gesträuch, dem Dickicht, der Wirrnis, die einen vielarmig verflochten zu Boden zog, während man doch aufstieg, aber die Hände immer im Dreck. Nun endlich der Ausblick auf freie Felsspitzen. Doch Oli hatte den Gipfel schon erreicht. Er folgte einer anderen Landkarte. Bereits gestern Abend im Spiegelsaal des Albergo Cascata fuhr sein Finger unentwegt an den gestrichelten Linien der aufgeschlagenen Wanderkarte vorbei, ignorierte sie querend und zeigte auf Durchstiege zwischen den Durchstiegen, als bewege er sich auf einer Karte hinter der Karte. Wege gab es dort, wo wir hinwollten, ohnehin keine, ein paar konfuse Tierspuren da und dort, aber sonst... Unsere Tagesziele wurden nicht immer von der Landes-Topografie gewürdigt. Wozu auch: die Alpen und Maiensässe waren längst dem Verfall anheimgefallen, verlassen und überlassen, und wer erinnert sich schon gerne an Aufgegebenes. Doch das Versunkene entwickelte eine Anziehungskraft, die bis nach Zürich reichte, bis zum Bürostuhl des Grafikers, und irgendwann riss sich der Städter los und erklärte die Hänge oberhalb der Calancasca zu den Seinen. In anderen Bergen, in anderen Tälern sah man ihn nie. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, er sei nun ein Wanderer oder Berggänger. Das Glarnerland blieb ihm zu nahe liegend. Richtung Engadin war es ihm wohl zu rotsockig. Oder vielleicht nahm er es gar nicht wahr, denn er hatte seinen Ort gefunden, war doch kein Suchender. Wochenende für Wochenende kurvte er im moosgrünen Peugeot über den San Bernardino, um in den Wäldern des Calancatals zu verschwinden, wurde bald schon ein bekanntes Gesicht in den Gasthöfen von Castaneda, Sta. Maria und Rossa. Doch zu den Häuschenbesitzern und Wanderern passte er nicht. Zu lange dauerte es, bis endlich ein Paar ordentliche Bergschuhe in seinen Kofferraum eingezogen waren. Und während andere, die von weither kamen, in Campingstühlen sitzend, die Sonne vorbeiwandern liessen, durchstreifte Oliver die Wälder und zu Hause das Internet nach Spuren und Beschreibungen zu Orten, an die sich die Alten nur zögernd erinnerten. Eine Schatzsuche nach Steinen begann, geschichteten oder verstreuten. Die ehemaligen Behausungen, die noch als Ruinen erkennbar sind, waren von ihm bald aufgesucht. Nun ging es weiter hinauf, tiefer hinein ins Buschwerk, das sich hinter ihm schloss wie ein grüner Vorhang. Ab hier waren nur noch die Hasselblad dabei, eine Wasserflasche, etwas Proviant und manchmal ein Zelt. Bis zu dem Tag, als sich ihm ein Felsriegel schob. Etwa zehn Meter hoch, seitlich nicht zu umgehen. «Braucht es da ein Seil!!? Wie macht man das?», stand in dem E-Mail, das mich kurz darauf erreichte. Nicht lange und auch ich sollte erfahren, dass selbst die Schweiz noch viel Wildnis zu bieten hat, und wie viele Stunden einen wenige hundert Meter Erlenwäldchen kosten können. Die letzten Wegspuren hatten wir heute früh schon verlassen, waren dafür durch kniehohes, nasses Gras gewatet, vorbei an schimmligen Pilzen, sind Böschungen hoch, die wir an dicken Baumwurzeln ziehend erklommen. Es gab Tierkot und riesenhaftes Blattwerk und ein Geäst, das uns wieder und wieder zu Umwegen zwang. Ich weiss nicht, wie lange es tatsächlich gedauert hat, bis wir vor diesem Felsabbruch standen - den wir überraschend mühelos bezwangen, da wir nach kurzer, unnützer Hantiererei mit dem Seil, von Menschen behauene Stufen entdeckten, eine Art Aufgang, der wohl im Sturm abgebrochen war, nur noch in Brocken sichtbar, diese aber trittfest genug, um das ausgesetzte Felsband zügig zu durchsteigen. Danach verloren wir uns in den Erlen. Kein Ausblick mehr möglich, die Karte gab unsere Position als grüne Fläche an. Der Höhenmeter brachte nur Kopfschütteln, wir wussten nicht, ob wir uns tiefer ins Undurchdringliche hineinkämpften oder ins Freie hinaus. Manchmal war ein Blick auf einen gegenüberliegenden Hang möglich, selten ein Baum, den man hätte besteigen können. Mir kamen Freunde in den Sinn, die eine Expedition in Kirgistan trotz mehrmonatiger Vorbereitung abbrechen mussten, weil an dem noch namenlosen Berg ein breiter Gürtel aus Dornengestrüpp den Zustieg fest umklammerte. Zäh wie Stacheldraht, ein Reisswolf der Natur. Unser Dickicht war zum Glück harmloser und sehr viel jünger. Etwas mehr als ein Menschenleben früher war hier vielleicht eine Weide gewesen, war hier vielleicht schon die Alp, das Häufchen Steine, das wir suchten. Überwuchert von Pflanzen und bereits überstolpert von uns. Sie ging schnell in der Mesolcina, die Rückeroberung, die Verwaldung einst mühsam abgerungener Wiesen, junger Laubbestand die Berghänge hoch, von wo aus man auch blickt. Doch an diesem Tag sollte die Beschreibung stimmen. Viel zu hoch oben taumelten wir aus den Büschen und blickten mit leichtem Triumphgefühl auf eine Wiese hinab, die nichts Liebliches an sich hatte. Struppiges, beiges Gras und Ansammlungen von verstreuten Steinen, die erst beim Näherkommen Mauerreste erkennen liessen. Schroff und verwittert. Von Oliver glitt die Erschöpfung ab, sofort eilte er auf der Böschung hin und her, um die optimale Perspektive auf die Steinhäufchen zu finden. Ich setzte mich ins harte Gras, blickte nach oben. Wir blieben eine gute Stunde. Der Rucksack mit der Kamera-Ausrüstung wurde ausgepackt, Wolken kamen und gingen, aufs Licht wurde gewartet, ich streifte umher, geriet ins Blickfeld der Kamera, verliess es wieder und tat Dinge, die ich auf Bergtouren nie tat: Müssiggang an Ort. Wartend setzte mich auf einen warmen Stein, zupfte an vorwitzigen Grashalmen und spähte in Erdlöcher, betrachtete die Umgebung. Auch Panoramen, die keine sind, sind welche. Ob wir danach noch auf einen der Gipfel gestiegen sind? Diesmal nicht, aber später sehr oft. Während ich das Wildwandern entdeckte, begann Oli, die Gipfel zu bemerken. In den folgenden Jahren haben wir viele Ruinen der Calanca aufgesucht, aber auch viele Berge bestiegen, vom Piz Pombi bis zum Damavand im Iran. Doch die wirksamste Art, sich in Abenteuer zu verwickeln, blieb die Suche nach den Überresten einstiger Wohnstätten im Calancatal. Wir unterquerten Wasserfälle, gerieten in Felswände, rutschten in vermooste Schluchten, die beinahe zu Fallen wurden und irrten durch schillernd-seltsame Pflanzenwelten, nur weil wir zur Unzeit am falschen Ort waren. Kein anderes Vorhaben, als die Suche und Dokumentation bedeutungsloser Vergangenheit, hätte uns zu diesem Genuss geführt. So sehr ich das Stativ auf meinem Rücken verfluchte, das sich in allem verfing, was sich darbot, so sehr begann ich Olivers Projekt zu lieben. Keine Bergausrüstung hing schwer in unseren Rucksäcken, wenn wir uns keuchend und Grasbüschel ausreissend die Hänge hocharbeiteten, sondern eine überdimensionierte Fotoausrüstung, die so analog wie nobel war, zwölf Aufnahmen pro Film. Einmal gab es keinen Rückweg mehr. Dort abzusteigen, wo wir hochgekommen waren, schien uns unmöglich, die überkletterten Felspassagen zu verwegen, das Gestrüpp zu dornig für eine zweite Begegnung. Also entschieden wir uns, eine Geröllrinne hochzugehen, um über einen Pass ins Nebental zu wechseln. Eine knappe Stunde später, zwei Schritte vor, ein Rutsch zurück, standen wir auf einem breiten Weg – und vor einer Gruppe Alpinisten, angetan mit Teleskop-Stöcken, farbigen Windjacken und verspiegelten Sonnenbrillen. Wir waren auf den Sentiero Alpino geraten. Die Schneise der Zivilisation über einem wilden Tal. Die Arme verschrammt, die Jacke zerrissen, blickten wir sie an. Oli in provozierenden Jeans, im Gepäck ein paar Fotos von den Überresten einer Alp, deren Name nicht auf der Wanderkarte stand. „Nein, wir haben uns nicht verlaufen.“ „Nein, wir waren auf keinem Gipfel.“ „Nein, wir werden uns später nicht in der SAC-Hütte treffen.“ Winkend machten wir uns wieder auf unseren Weg, der sich bald schon im Legföhrenbestand verlieren sollte. Man sagt, Bergsteigen sei die Eroberung des Nutzlosen. So gesehen fuhren wir grosse Siege ein. Die Bilder dieses Buches zeugen auch von der Kunst, ein Ziel zu finden, dessen Erreichung eine lange Reihe von Freuden darstellt, die man sich so gar nie hätte ausdenken können. Die vergessenen Alpen der Calanca haben ihren Sinn verloren, sie akribisch zu dokumentieren hat nie jemand gefragt. Doch schön sind sie geworden, die Fotografien der Verlassenen. Und nur Ignoranten suchen in der Schönheit den Nutzen. 

 

Die Schneise der Zivilisation über einem wilden Tal.
Auch Panoramen, die keine sind, sind welche.
Und nur Ignoranten suchen in der Schönheit den Nutzen.
Während man doch aufstieg, aber die Hände immer im Dreck.